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Wirtschaft
Der Lehrstellenmarkt hat die Coronakrise bisher gut überstanden. Lässt sich dieser Erfolg in der zweiten Welle wiederholen?
Die Wirtschaft brach weniger ein, als befürchtet. Bund und Kantone stemmten sich gegen eine neue Lehrstellenkrise. So konnte 2020 die gleiche Anzahl von Lehrverträgen abgeschlossen werden wie im Jahr 2019, trotz Lockdown im Frühling. Doch es ist eine offene Frage, ob sich dies auch im zweiten Lockdown gelingt.
«Es gilt wachsam zu bleiben, es können neue Probleme auftauchen», warnt Stefan Wolter, oberster Bildungsforscher und neues Mitglied der Corona-Taskforce. In Deutschland, das ein ähnliches Berufsbildungssystem hat wie die Schweiz, konnten vergangenes Jahr coronabedingt etwa 6 Prozent weniger Lehrverträge abgeschlossen werden. Wolter sagt:
Das Beispiel Deutschland zeigt, dass die Coronakrise auf die Lehrstellen durchschlagen kann.
Noch würden keine neuen Zahlen vorliegen, das werde im Februar der Fall sein, so Wolter. Doch lasse sich erkennen, wo möglicherweise Probleme auftauchen. Naheliegend sei das Gastgewerbe, das national seit ein paar Wochen im Lockdown ist, in der Romandie seit Monaten. Schnupperlehren sind nicht durchführbar, Bewerbungsgespräche nur online. Vor allem seien bei vielen Betriebe die Finanzen knapp geworden. «Sie wissen nicht, ob sie nach dem Lockdown den Betrieb wieder aufnehmen können.»
Wolters Vorahnung bestätigt sich. Bruno Lustenberger präsidiert die Berufsbildungskommission im Dachverbands Gastrosuisse, ist Eigentümer des Hotel Krone in Aarburg, hat 20 Mitarbeiter, beschäftigt sechs Lehrlinge – und er ist besorgt: «Wir kämpfen, wo wir können, aber es ist katastrophal. Es soll sich in drei Jahren niemand bei mir beschweren, dass wir zu wenige Köche haben und mehr Arbeitslose.»
Im Lockdown könnten keine neuen Lehrverträge abgeschlossen werden, so Lustenberger. Ohne Schnupperlehren gehe es nicht, auch nicht ohne persönliche Gespräche. Und dann sind da Spätfolgen aus dem ersten Lockdown. Es wurde lange keine Kurzarbeitsentschädigung gesprochen für Lehrlinge. Die Betriebe zahlten Löhne, ohne selbst zu verdienen und ohne dass die Lernenden arbeiten konnten. «Nun sagen sich viele, das mache ich nicht nochmals, wir nehmen im Sommer keine neuen Lernenden.»
Wie weit verbreitet diese Haltung ist, wollte Lustenberger wissen, und machte eine Umfrage im Kanton Aargau. Demnach würden dieses Jahr in der kantonalen Gastronomie nicht 250 Lehrverträge abgeschlossen wie 2019, sondern noch 150 bis 175. Es wäre ein Minus von 30 bis 40 Prozent.
National wäre der Rückgang noch grösser, glaubt Lustenberger. Denn im Vergleich zum Aargau seien Kantone wie Luzern oder das Wallis deutlich abhängiger vom internationalen Tourismus, der seit Monaten darniederliegt. Lustenberger schätzt deshalb für die Schweiz ein Minus von über 40 Prozent. Bei normalerweise rund 1700 neuen Lehrverträgen wären das 700 verlorene Lehrverträge im Jahr 2021.
Das Gastgewerbe ist wichtig für die Berufsbildung. In der ganzen Schweiz wurden letztes Jahr rund 76000 Lehrverträge abgeschlossen. Mit 1700 Verträgen entfallen also 2 Prozent der jährlich abgeschlossenen Lehrverträge auf die Branche. Laut Lustenberger sei die Branche vor allem auch ein wichtiger Arbeitgeber für schulisch schwächere Jugendliche.
«Diese Lehrstellen zurückzuholen, ist schwierig bis unmöglich», warnt Lustenberger. Wenn ein Betrieb erst einmal die Ausbildung aufgebe, gehe das nötige Wissen verloren. Und wenn die Lernenden einmal fehlen, hat dieser Jahrgang in der ganzen Lehrzeit zu wenige. Die eine oder andere Berufsschule brauche es vielleicht nicht mehr. «Wir müssen aufpassen auf die Berufsbildung, sonst stürzt das ganze Gerüst ein.»
Dass die Berufsbildung am Ende auch den zweiten Lockdown gut übersteht – daran zweifelt Lustenberger zumindest für die Gastronomie. Würden Bund und Kantone sich gegen eine Krise stemmen, gelinge es vielleicht. Aber es werde ungleich schwieriger. Lustenberger: «Schlimm wird es erst jetzt, und der Bundesrat hat es bisher nicht gemerkt.»
Vor dem ersten Lockdown seien viele Lehrverträge schon abgeschlossen gewesen. Nun stehe die Branche in den entscheidenden Monaten Januar und Februar still, mit ungewissen Aussichten. Und natürlich stehe die Branche heute finanziell viel schwächer da als im ersten Lockdown.
Ob es tatsächlich zu einem nationalen Rückgang von Lehrstellen kommt, wird sich zeigen. Eine Umfrage im August 2020 gibt jedenfalls Anlass zur Sorge, wie Bildungsforscher Wolter sagt. In der Umfrage, die im Nahtstellenbarometer veröffentlicht wurden, konnten 27 Prozent der Betriebe nicht sagen, ob sie auch künftig Lehrstellen anbieten würden. 6 Prozent wollen weniger anbieten. Und im August genoss die Schweiz bekanntlich noch den Sommer.
Die kantonalen Berufsbildungsämter konnten bisher Entwarnung geben. Zumindest bis Ende Dezember seien die Lehrstellen vergleichbar wie in den Vorjahren besetzt worden, teilt das SBFI mit, das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. Zugleich habe es Rückmeldungen gegeben, wonach es in einzelnen Branchen harze – insbesondere in der Gastronomie. Doch das SBFI rechnet damit, dass solche Verzögerungen sich später aufholen lassen.