Analyse
It’s the Brexit, stupid

In seiner Analyse zum Börsenstreit zwischen der EU und der Schweiz schreibt Wirtschaftsredaktor Daniel Zulauf: «Es ist gelinde gesagt irreführend, den ausbleibenden Entscheid der EU als Erpressung darzustellen.»

Daniel Zulauf
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Die EU will die Schweizer Regulierung der Börsen nur befristet für ein Jahr mit jener der EU für gleichwertig erklären und nicht unbefristet, wie seitens der Schweiz erwartet wurde. Im Bild: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Bundespräsidentin Doris Leuthard. (Archivbild)

Die EU will die Schweizer Regulierung der Börsen nur befristet für ein Jahr mit jener der EU für gleichwertig erklären und nicht unbefristet, wie seitens der Schweiz erwartet wurde. Im Bild: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Bundespräsidentin Doris Leuthard. (Archivbild)

KEYSTONE/PETER KLAUNZER

Die EU stellt mit ihren 28 Mitgliedsländern und den drei assoziierten Staaten im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ein kompliziertes Gebilde dar. Dass dieses immer mal wieder überraschende und rational kaum nachvollziehbare Entscheidungen hervorbringt, sollte sich hierzulande eigentlich längst herumgesprochen haben.

Für Irritationen sorgte die EU erst vor zehn Tagen, als sie die Schweiz völlig unerwartet auf ihre «Graue Liste» für Länder mit schädlichen Steuerpraktiken setzte. Später erfuhr man in Brüssel, das am Pranger stehende Fürstentum Liechtenstein habe Frankreich dafür gewinnen können, die Schweiz ebenfalls auf die Liste zu setzen. In diesem abgekarteten Spiel ging es offensichtlich weniger um Steuern als um gleich lange Spiesse im Wettbewerb zwischen zwei Finanzplätzen.

Widerstand der EU-Mitglieder

So plötzlich wie die Schweiz auf der «Grauen Liste» auftauchte, signalisiert nun Brüssel, die EU könnte unserem Land die Gleichwertigkeitsanerkennung der hiesigen Börsenregulierung doch nicht definitiv gewähren. Genau das hatte sich der Bundesrat spätestens seit dem Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im November in Bern erhofft. Nachdem er von der Landesregierung die Zusicherung für die Zahlung der Kohäsionsmilliarde erhalten hatte, herrschte hierzulande fast ein Konsens, dass sich der Chefkommissar als Gegenleistung in Brüssel erfolgreich für die Anerkennung der Börsenäquivalenz starkmachen würde.

Die dafür nötigen Hausaufgaben hat die Schweiz längst erledigt: Das neue Finanzmarktinfrastrukturgesetz ist exakt auf die in der EU geltenden Bestimmungen zugeschnitten. Technisch hat die europäische Aufsichtsbehörde Esma schon vor geraumer Zeit grünes Licht gegeben. Dennoch ist dieser Prozess wider erwarten ins Stocken geraten. Widerstand regt sich vermutlich weniger in der Kommission als im Kreis der 28 EU-Mitgliedsländer, die vor dem Entscheid konsultiert werden müssen. Dort beruft man sich nun offenbar auf die zuletzt im Februar 2017 vom EU-Rat bekräftigte Position: Für eine Weiterentwicklung des bilateralen Weges mit der Schweiz sei der Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens nötig.

Wenn schon, ist London gemeint

Sollte die EU der Schweiz die Gleichwertigkeitsanerkennung der Börsenregulierung dereinst aus politischen Gründen tatsächlich nicht zugestehen wollen, würde dies der Attraktivität des hiesigen Kapitalmarktes erheblich schaden. Die Bedeutung der Schweiz als Handelsplatz in Europa würde massiv geschmälert. Börsenteilnehmer mit Sitz in einem EU-Land dürften dann über Schweizer Börsen keine Wertschriften mehr handeln, was die hiesigen Börsen zwingen würde, ihre Aktivitäten in die EU zu verschieben. Für die Schweiz wäre dies sehr ärgerlich, aber sicher nicht Grund genug, ein viel weitergehendes Rahmenabkommen zu unterzeichnen.

Weil man dies auch in Brüssel weiss, ist es gelinde gesagt irreführend, den ausbleibenden Entscheid der EU als Erpressung darzustellen, wie dies einige Medien hierzulande reflexartig getan haben. Wenn man schon von Erpressung reden will, dann richtet sich diese wohl eher nach London als nach Bern. In London werden über 50 Prozent der europäischen Aktienhandelsumsätze und rund 80 Prozent der Derivatgeschäfte getätigt. Denn die Themsestadt war ursprünglich in der EU-Strategie als Finanzmarkt-Hub für ganz Europa vorgesehen. Inzwischen aber haben die Briten für den Brexit gestimmt, weshalb die EU die an London ausgelagerten Geschäfte zurückwill. Doch das wird schwieriger, wenn die Schweiz als Drittstaat schon heute die endgültige Zusicherung von der EU erhält, auf die sich die Briten später berufen könnten. Wenn Brüssel London auf die Folter spannt, leidet die Schweiz eben notgedrungen mit.

daniel.zulauf@azmedien.ch