Erste Bilanz der Lohnrunde ist unbefriedigend, beispielsweise im Detailhandel

Die Gewerkschaften wollten viel. In der ersten Bilanz der Lohnrunde müssen sie erkennen: sie bleiben weit hinter den Forderungen zurück.

Niklaus Vontobel
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Weniger als erhofft: Auch die Lohnrunde 2020 verlief nicht wie von den Gewerkschaften erhofft.

Weniger als erhofft: Auch die Lohnrunde 2020 verlief nicht wie von den Gewerkschaften erhofft.

Bild: Martin Rütschi/Keystone

Die laufende Lohnrunde wird nicht so ausfallen, wie sich die Gewerkschaften das vorgestellt hatten. Im Gespräch mit dieser Zeitung zieht Daniel Lampart eine erste Bilanz. Sie fällt ernüchternd aus, sagt der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Es gebe zwar durchaus einige Lichtblicke. So habe man endlich die tiefen Löhne in der Textilindustrie anheben können:

«Doch zahlreiche Resultate sind unbefriedigend, etwa im Detailhandel.»

Damit bleibt der Gewerkschaftsbund weit hinter seinen Forderungen zurück. Noch im September hat er eine Erhöhung von mindestens zwei Prozent gefordert. Damit müsse die «Ungerechtigkeit» aus den letzten drei Jahren korrigiert werden. Mit der Wirtschaft sei es aufwärts gegangen, die Arbeitslast habe ebenfalls zugenommen. Und dennoch seien die Löhne real gesunken. Die Mitarbeiter hätten weniger mit ihrem Geld kaufen können.

Drei Monate später ist klar: Die geforderte Korrektur bleibt aus. Lampart will zwar keine Prognose abgeben. Noch lasse sich nicht genau absehen, um wie viel die Löhne im landesweiten Durchschnitt zunehmen. Doch die Abschlüsse, die bereits vorliegen, deuten auf eine mittlere Erhöhung von nur 0,5 bis 1 Prozent hin (siehe Tabelle). Das ist weniger als die Hälfte dessen, womit die Gewerkschaften in die Verhandlungen eingestiegen sind.

So lief es in den Vorjahren: Reallöhne stagnieren

So zeichnet sich eine Lohnrunde ab, wie sie auch von der Grossbank UBS erwartet wird. Via einer Umfrage unter Betrieben sagen die UBS-Ökonomen ein Plus von 0,8 Prozent voraus. Davon frisst die Teuerung mehr als die Hälfte weg. Es bleiben 0,3 Prozent mehr Reallohn.

Damit würde die Schweiz bereits die vierte schwache Lohnrunde in Folge erleben. Und es bedeutet: Die Reallöhne sind im Jahr 2020 gleich hoch wie 2016. Die Arbeitnehmer hätten also bei den Reallöhnen vier Jahre lang ein Nullwachstum gehabt.

Gewerkschaften: Keine Verbesserung bei den Frauenlöhnen

Es ist nicht die einzige Enttäuschung. Der Gewerkschaftsbund wollte für die Frauen eine «Korrektur nach oben» herausholen. Ihre Löhne lägen noch immer hinter jenen der Männer zurück. Das müsse sich bessern. Doch man kommt diesem Ziel kaum näher. Denn die Lohnerhöhungen, die es tatsächlich gibt, werden von den Arbeitgebern grösstenteils von Person zu Person anders verteilt.

Und wie Lampart sagt: «Von solchen individuellen Erhöhungen profitieren Frauen weniger.» Diese Benachteiligung sei schwer zu erklären. Doch sei sie regelmässig zu beobachten. Geben Arbeitgeber jedem Mitarbeiter eine andere Lohnerhöhung, haben Männer mehr davon. «Frauen ist mehr geholfen, wenn alle gleich viel bekommen.»

Warum erreichten die Gewerkschaften nicht mehr?

Warum verlief die Lohnrunde nicht nach gewerkschaftlichen Wunsch? Zum einen wurden in einigen Schlüsselbranchen die Löhne dieses Jahr gar nicht neu verhandelt. Beispielsweise im Bausektor wird auf 2020 bloss eine Lohnerhöhung umgesetzt, die bereits in einer früheren Verhandlungsrunde beschlossen wurde.

Doch vor allem hat sich das Wachstum der Wirtschaft im dümmsten Augenblick verlangsamt. Kurz vor der Lohnrunde häufen sich die schlechten Nachrichten: Umfragen unter Betrieben zeigen, dass weniger Aufträge hereinkommen; die Zinskurve zeigt auf einmal nach unten, was früher nur vor Rezessionen zu beobachten war.

Dieses Bild bestätigt sich später. Die Industrie vermeldet, bei ihren Unternehmen verlangsame sich der Geschäftsgang «schnell und massiv». In den Zahlen von Juli bis August zeigt sich: Nur der Pharmasektor kommt noch kräftig voran. Die übrige Wirtschaft kommt nahezu zum Stillstand. Und die Verlangsamung hatte erste Folgen am Arbeitsmarkt. In der Industrie steigt die Zahl der Stellensuchenden.

Wie reagieren die Gewerkschaften auf die Enttäuschung?

Die Lohnrunde enttäuscht, obwohl die Gewerkschaften hohe Erwartungen geweckt haben. Im November erhöht der neue Chef des Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard, den Druck auf die eigenen Reihen. Den Gegensatz von Hochkonjunktur einerseits und sinkenden Reallöhnen andererseits nennt Maillard in einer Rede: «beispiellos, ungerechtfertigt und beunruhigend». Wie solle das erst werden, wenn die Schweiz in eine Rezession falle.

Auf diesen Befund baut Maillard eine Drohkulisse auf. Eine enttäuschende Lohnentwicklung schwäche den demokratischen Konsens. In der ganzen Welt sei dies zu beobachten und auch die Schweiz müsse vorsichtig sein. Sonst würden Niederlagen drohen in Volksabstimmungen, die für die Wirtschaft entscheidend seien. «Man muss die Bevölkerung davon überzeugen: Unser Wirtschaftsmodell bietet allen Menschen eine soziale Sicherheit.»

Wie geht es weiter? Gewerkschaften wollen «Intensität erhöhen»

Bleibt es bei harten Worten? Oder lassen die Gewerkschaften noch Taten folgen? Vor den Verhandlungen hatte die Syna gewerkschaftliche Aktionen angekündigt, erreiche man kein akzeptables Ergebnis. Man werde sich weigern, den Verhandlungsabschluss zu unterschreiben, Versammlungen einberufen, Briefe schreiben. Proteste seien möglich oder verlängerte Pausen.

Beim Gewerkschaftsbund hingegen blickt man bereits zur nächsten Lohnrunde. Lampart sagt:

«Im nächsten Jahr müssen die Löhne deutlich stärker steigen. Wir werden die Intensität erhöhen müssen.»

Um welche konkreten Massnahmen es gehen könnte, sagt er nicht. Jede Branche bestimme ihr Vorgehen selber. Den Gewerkschaften hilft, dass nächstes Jahr mehr Gesamtarbeitsverträge neu ausgehandelt werden.

Das sagen die Arbeitgeber: Es gab nicht mehr Spielraum

Auf die scharfe gewerkschaftliche Rhetorik wird aufseiten der Arbeitgeber betont nüchtern geantwortet. Es habe sich bestätigt, was sich schon im Sommer abzeichnete, so der Chefökonom des Arbeitgeberverbands, Simon Wey. Nämlich:

«Die Wirtschaftslage lässt wenig Spielraum für die Lohnrunde.»

Die Betriebe müssten noch immer Investitionen nachholen, die sie in den ersten Jahren nach dem Frankenschock nicht tätigen konnten.

Immerhin, so Wey, bleibe den Arbeitnehmer dieses Jahr eines erspart: Die Löhne würden nicht wieder real sinken. Stattdessen würden könne man sich wieder etwas mehr leisten für den Lohn.