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Ware, die aus der Norm fällt, schafft es immer noch selten in die Supermärkte. Der Bauernverband fordert deshalb tiefere Standards. Detailhändler winken ab – die Konsumenten seien zu wählerisch.
Aus dem vollen Ladenregal nur die wohlgeformten Kartoffeln oder die perfekt gereiften Erdbeeren heraussuchen – das kennt jeder. Konsumentinnen und Konsumenten sind anspruchsvoll, jene in der Schweiz wahrscheinlich noch anspruchsvoller. Die hierzulande hohen Qualitätsstandards sind wir uns schliesslich schon lange gewöhnt.
Unter anderem deshalb sind Früchte und Gemüse, die aus der Norm fallen, in Supermärkten noch immer selten zu sehen. Sie gelten häufig als unverkäuflich, der ganzen Nachhaltigkeits-Debatte zum Trotz. Das hat Folgen: Die Landwirtschaft ist laut dem Schweizer Bauernverband für neun Prozent des gesamten Food Waste verantwortlich. Die aus Sicht des Verbands «zu strengen» Handelsnormen sind einer der zwei Hauptgründe. Der zweite ist, wenn es zu einem Überangebot kommt.
Die Forderung des Bauernverbands ist daher klar: Die Normen müssen gesenkt werden.
«Der Handel zeigte bisher nur wenig Bereitschaft, über eine Lockerung der Normen zu reden»,
kritisiert Verbandssprecherin Sandra Helfenstein. Und: «Die Grossverteiler machen sich bei den Bauern aktuell sehr unbeliebt, indem sie stetig neue Zusatzanforderungen einführen, die über die bereits strengen Branchennormen hinausgehen.»
Eine klare Kampfansage an Migros und Coop. Schaut man allerdings über deren optisch perfekt arrangierte Früchte- und Gemüseregale hinaus, sieht man, dass sich die beiden Grossverteiler durchaus bemühen. In ihren Sortimenten bieten sie bereits viele solche Produkte günstiger an, unter M-Budget (Migros) oder Prix Garantie (Coop). Laut der Migros wurden 2019 so über 11’500 Tonnen Äpfel, Karotten, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Die Nachfrage sei auf einem stabilen Niveau. Bei Coop gibt es zudem die 2013 eigens für nichtkonforme Ware lancierte Eigenmarke «Ünique».
«Praktisch alle Schweizer Detailhändler bieten Produktlinien für Ware ausserhalb der Normen an»,
bestätigt Marcel Jampen. Er ist Bereichsleiter Markt bei Swisscofel, dem Verband des Schweizerischen Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandels. Er betont: «Die Normen wurden von Produktion, Handel und Detailhandel gemeinsam entworfen. Der Detailhandel macht zu diesen Standards zudem immer wieder Ausnahmen und nimmt nicht genormte Ware an, beim Rosenkohl zum Beispiel.»
Interessant ist, dass auch der Schweizer Obstverband von einer «partnerschaftlichen Festlegung» der Normen spricht und sich damit vom Bauernverband distanziert. Auf Anfrage schreibt der Obstverband, dass die Normen laufend weiterentwickelt werden, um «der Nachfrage am Markt entsprechen zu können».
Auch Coop wehrt sich gegen die Darstellung des Bauernverbandes, dass die Normen ein Diktat der Detailhändler seien. «Die Normen werden gemeinsam mit den beteiligten Akteuren definiert und wir müssen schauen, was im Handel überhaupt eine Chance hat», sagt Andreas Allenspach, seit sechs Jahren Leiter Früchte und Gemüse bei Coop. «Qualitativ und optisch hochwertige Produkte haben nun mal die grösste Chance. Kunden sind nach wie vor eher wählerisch.»
Er nennt dazu ein Beispiel: Sind die Kartoffeln nicht sauber und schön rund, wandert die Nachfrage zu Reis und Teigwaren. Mit seinen Produzenten sei Coop deshalb in engem Austausch, nicht perfekte Ernten sollen diese jeweils gleich melden. «Dann bieten wir Hand», so Allenspach. «Verhagelte Äpfel zum Beispiel werden dann unter Ünique vermarktet oder zu Fruchtsäften weiterverarbeitet. Wir weisen sehr selten und nie ohne Grund Ware ab.» Diejenige, die dennoch abgewiesen werden muss (etwa wegen Fäulnis) wird an Tiere verfüttert oder gelangt in Biogas- oder Kompost-Anlagen.
Vereine wie Gebana und Grassrooted (beide in Zürich), die sich gegen Food Waste und für mehr nichtkonforme Ware im Verkauf einsetzen, sind dennoch der Meinung, dass der Handel die Konsumenten verzogen hat und die Schuld an den hohen Ansprüchen trägt. Würden es auch krumme Karotten und fleckiger Knoblauch in die Standard-Regale schaffen, hätten die Bauern – und ebenso die Händler – mehr Geld in der Tasche.
Darauf angesprochen, gibt Andreas Allenspach von Coop folgenden Aspekt zu bedenken: Die Produktion wurde in der Schweiz schon so perfektioniert, dass es normabweichende Ware eigentlich sehr selten gibt. Die Produkte unter der Eigenmarke Ünique beispielsweise machen nur einen Bruchteil des gesamten Frischsortiments aus. Mit Produzenten würden heutzutage bereits explizite Anbauplanungen gemacht, welche auch die Herausforderung der Überproduktion reduzieren.
Marcel Jampen von Swisscofel bestätigt dies. Er sagt zudem: «Ware in den Wertschöpfungskreislauf zu bringen, die nicht gekauft wird, bringt niemanden etwas. Dies führt nur zu einem noch höheren Überangebot und einem Mehraufwand für Verpackung, Transport und dergleichen für ein Produkt, das schlussendlich im Laden vernichtet wird. Der Food Waste schiebt sich also nach hinten in der Wertschöpfungskette und produziert Plastik, Treibhausgase und vernichtet Geld.»
Hinzu komme, dass die Normen stark abhängig von den ausländischen Normen seien – die in Europa sogar gesetzlich verpflichtend seien und nicht partnerschaftlich festgelegt würden. Das sieht auch der Bauernverband ein:
«Bei Produzenten ist teilweise die Angst da, dass Schweizer Ware im Falle von tieferen Normen in der Qualität nicht mehr mit den Importen mithalten kann und die Konsumenten stattdessen zu diesen greifen»,
sagt Sprecherin Helfenstein.
Besser ist es also, die Produkte, die es im Offenverkauf erfahrungsgemäss schwieriger haben, schon vorher zu verarbeiten – etwa zu Saucen, Suppen und Säften in der Gastronomie. «In unseren Restaurants, der Eigenindustrie oder im Take Away finden diese Frischprodukte wichtige Verwendungen», heisst es bei der Migros auf Anfrage. Dank dieser Strategie könnten 98.56 Prozent der Lebensmittel verkauft oder an Organisationen wie Tischlein deck dich abgegeben werden.