Die amerikanische Filmindustrie hat einen schlechten Sommer hinter sich – mit stark sinkenden Einnahmen in den USA und Kanada. Analysten sind sich über die Gründe uneinig.
Renzo Ruf, Washington
Hollywood setzt grosse Hoffnungen in einen mörderischen Clown. Gestern ist der Horrorstreifen «It», eine Adaption des gleichnamigen Buches von Stephen King aus dem Jahr 1986, in mehr als 4000 amerikanischen Kinos angelaufen. Dabei hat die gesamte Kinoindustrie den Atem angehalten. 65 bis 75 Millionen Dollar werde der Film, der ab Ende Monat auch in den Schweizer Kinos startet, am ersten Wochenende einspielen, heisst es in Branchenkreisen – was für einen Filmstart im September, einem schwachen Kinomonat, rekordverdächtig wäre.
Nach einem verpatzten Sommer ist Hollywood dringend auf einen Blockbuster angewiesen. Denn zwischen den Feiertagen Memorial Day (Ende Mai) und Labor Day (Anfang September) sahen sich die Filmstudios mit einer cineastischen Enttäuschung nach der anderen konfrontiert. Der Sommer ist in den USA traditionell die stärkste Kino-Jahreszeit. Doch weder die fünfte Folge der «Pirates of the Caribbean»-Saga noch der Fantasyfilm «Der dunkle Turm» (ebenfalls nach einem Buch von Stephen King) oder die Kinoversion der TV-Serie «Baywatch» vermochten die Zuschauer zu überzeugen.
Unter dem Strich nahmen die Kinos in den USA und Kanada in den vergangenen vier Monaten nur gerade 3,84 Milliarden Dollar aus dem Verkauf von Tickets ein, berechnete das Analyseunternehmen ComScore. Dies entspricht umgerechnet einem Minus von mehr als 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zuletzt hatte Hollywood im Jahr 2006 ähnlich wenig Geld eingenommen. Noch düsterer sieht die Sommerbilanz mit Blick auf die Zahl der verkauften Tickets aus. 431 Millionen Kinogänger zählte die Branche im Sommer 2017, ein Rückgang von fast 17 Prozent gegenüber dem Sommer 2016. Letztmals waren 1992 weniger Amerikaner ins Kino geströmt, am Ende der Amtszeit von Präsident George Bush senior.
An Erklärungsversuchen für das Debakel mangelt es nicht. Analyst Jeff Bock, der für den Branchendienst Exhibitor Relations arbeitet, macht in erster Linie das Kommerzstreben der grossen Filmstudios für die Flaute verantwortlich. «Bitte, wir flehen Sie an», sagt Bock an die Adresse von Walt Disney, 20th Century Fox, Warner Bros. und Konsorten gerichtet, «geben Sie uns etwas anderes als seelenlose, dumme Fortsetzungen und Remakes.»
Natürlich ist sich der Filmspezialist bewusst, dass sein Wunsch auf taube Ohren stösst. Hollywood hat sich darauf spezialisiert, Filmreihen global zu vermarkten – weil sich heute mit dem Verkauf von Fanartikeln mehr Geld verdienen lässt als mit dem Verkauf von Kinotickets. Deshalb werden im kommenden Sommer 14 weitere Sequels in den amerikanischen Kinos anlaufen, wie Jeff Bock leicht resigniert in einem Blogeintrag festhält.
Der andere Hauptgrund für die Filmflaute: das veränderte Konsumverhalten. Anstelle von Hollywood-Blockbustern sind es aufwendig produzierte Fernsehserien wie «Game of Thrones» (GoT), die heutzutage für Gesprächsstoff sorgen. Das kürzlich ausgestrahlte Finale der siebten GoT-Staffel erzielte eine rekordverdächtige Einschaltquote von 16,5 Millionen Menschen, auch dank der Tatsache, dass der Bezahlsender HBO die Serie über eine Computerapplikation zugänglich machte. Derzeit herrsche ein Überangebot von gut gemachten Unterhaltungsprodukten, sagt deshalb ein Sprecher eines nationalen Kino-Branchenverbandes. Filme weckten das Interesse einer breiten Bevölkerungsschicht nur dann, wenn sie besonders gut gemacht seien.
Andere Stimmen sagen, dass die Abgesänge auf Hollywood voreilig seien: Das Kinogeschäft sei nun mal stark von äusseren Faktoren abhängig. Michael Pachter, der für die Investmentbank Wedbush Securities arbeitet, erinnerte in der «Washington Post» daran, dass die Filmindustrie noch 2016 sämtliche Rekorde gebrochen habe.
Seiner Meinung nach ist es deshalb «schlicht falsch», bereits aufgrund der schlechten Zahlen einer Saison Rückschlüsse auf den Zustand der Branche zu ziehen. Vielleicht, ergänzte Branchenanalyst James Goss, sei auch der Fokus auf die Sommermonate überholt. Hollywood habe in den vergangenen Jahren zur Kenntnis genommen, dass die Amerikaner während der Schulferien von Mai bis September nicht mehr jedem vermeintlichen Blockbuster entgegenfieberten.