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Wirtschaft
Um den Mitgliederschwund zu stoppen, müssten die Gewerkschaften eigentlich mehr Erfolge vorweisen können, doch dafür fehlt ihnen zunehmend die Kraft.
Unter dem Motto «Mehr zum Leben» begeht der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) den diesjährigen Tag der Arbeit. «Zusammenstehen und gemeinsam kämpfen zahlt sich gerade bei den Löhnen direkt aus», liest man im Aufruf des SGB zum 1. Mai: «In den letzten zwanzig Jahren ist es uns Gewerkschaften gelungen, die untersten Löhne deutlich anzuheben.» Doch just bei den Löhnen gab es für die grosse Mehrheit der Arbeitnehmenden in der Schweiz zuletzt wenig zu feiern.
Nominal sind die Gehälter 2018 zwar um 0,5 Prozent gestiegen, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) in dem am Mittwoch publizierten Bericht über die im vergangenen Jahr beobachtete Lohnentwicklung schreibt. Doch die Teuerung hat diesen Zustupf in den meisten Branchen in eine reale Lohneinbusse verwandelt. Der durchschnittliche Reallohnverlust aller Arbeitnehmenden beträgt 0,4 Prozent. Es ist dies die zweite Reallohneinbusse in Folge. Der SBG spricht von einer «alarmierenden» Entwicklung zumal sich die Schweizer Wirtschaft weiterhin auf Expansionskurs befinde.
Die Schuld an dieser Entwicklung sehen die Gewerkschaften allein bei den Arbeitgebern. «Sie schliessen die Arbeitnehmenden vom Aufschwung aus. Umso mehr als die Haushaltsbudgets durch steigende Mieten und Krankenkassenprämien bereits stark belastet werden.» Nicht ganz zu dieser Feststellung will aber die Lohnentwicklung bei den wichtigsten Gesamtarbeitsverträgen passen, denen gemäss BFS fast eine halbe Million Arbeitnehmende angeschlossen sind. Diese haben 2018 nominal bloss 0,3 Prozent mehr erhalten. Nach Abzug der Inflation von 0,9 Prozent mussten sie real somit eine überdurchschnittliche Einbusse von 0,6 Prozent hinnehmen. Dieser Befund erscheint à priori überraschend, denn eigentlich müsste man annehmen, dass sich GAV-Löhne besser entwickeln als die in privaten Einzelverträgen festgelegten Saläre. Plausibel wäre nämlich, dass organisierte Arbeitnehmende aufgrund ihrer stärkeren Verhandlungsposition günstigere Ergebnisse in den Lohnverhandlungen erzielen.
Doch für das scheinbar paradoxe Resultat gibt es eine gute Erklärung. In den GAV-Verhandlungen fokussieren die Gewerkschaften typischerweise primär auf die tiefsten Löhne und nicht auf den Durchschnitt aller Löhne. Zudem priorisieren sie in den Verhandlungen gerne auch nicht direkt lohnwirksame Faktoren wie Arbeitszeiten, Ferien und Vorsorgeleistungen. Der Genfer Arbeitsökonom Yves Flückiger hat diese Zusammenhänge vor mehreren Jahren empirisch nachgewiesen und festgestellt: In den niedrigsten Lohnkategorien erlangen die GAV-unterstellten Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächliche bessere Bedingungen, wenn es um die soziale Sicherheit geht.
Ein Element der sozialen Sicherheit ist auch der Erhalt von Arbeitsplätzen. Dass die Gewerkschaften im Wissen um die Präferenz ihrer Mitglieder hier im Zweifelsfall Zurückhaltung üben, wenn es um Lohnforderungen geht haben die Erfahrungen nach dem letzten Frankenschock deutlich gezeigt. Von den 560 Industriefirmen, die dem Branchenverband Swissmem angehören, hatten nach der Aufhebung des Euromindestkurses am 15. Januar nicht weniger als ein Fünftel (96 Firmen) unter Anrufung des GAV-Krisenartikels 57 die Arbeitszeiten während einer befristeten Zeit ohne Lohnausgleich verlängert. Die intensive Nutzung dieser Ausnahmeregelung gab zwar Anlass zu einiger Kritik aus Gewerkschaftskreisen. Trotzdem wurde der Krisenartikel im vergangenen Jahr im neuen GAV der Mem-Industrie mit relativ kleinen Abstrichen wieder aufgenommen.
Der pflegliche Umgang zwischen den Sozialpartnern im Lohnbereich hat eine lange Tradition in der Schweiz. Zweifellos hat dies mitgeholfen, die Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten Unternehmen zu schützen, die Deindustrialisierung der Wirtschaft zu bremsen und die Arbeitslosigkeit in Grenzen zu halten. Doch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung von Produktionsprozessen wirft die Frage auf, ob die Verhandlungspolitik der Sozialpartner aus der Vergangenheit auch für die Zukunft das richtige Rezept darstellt. Viele Ökonomen gehen davon aus, dass die Robotisierung der Wirtschaft den Unternehmen künftig hohe Produktivitätsgewinne bescheren wird, die nach einer gerechten Verteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden rufen werden. Der wirtschaftliche Erfolg von globalen Grosskonzernen wie Amazon wecken Zweifel daran. Eben erst hat der amerikanische Onlinehändler eine Steigerung seines Jahresgewinns um 125 Prozent auf 3,6 Milliarden Dollar gemeldet. Der Konzern zieht offensichtlich enorme Profite aus den Investitionen in die Automatisierung seiner Lagerlogistik. Doch die Löhne der Arbeitskräfte in den riesigen Lagerhallen verharren auf tiefstem Niveau. Die deutsche Gewerkschaft Ver.di fordert seit Jahren vergeblich einen Tarifvertrag. Ihre Dauerkritik an den Löhnen von um die 11 Euro pro Stunde hat noch kaum Wirkung gezeigt. Daran vermochte bislang auch die ausgeklügelte Streiktaktik in den deutschen Verteilzentren nicht viel zu ändern. Denn der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Amazon-Mitarbeiter ist dafür offensichtlich immer noch viel zu tief.
Immerhin hat sich der Mitgliederschwund in den deutschen Gewerkschaften im Lauf der vergangenen Jahre stark abgeschwächt und die grösste Gewerkschaft IG Metall verzeichnete zuletzt sogar wieder ein Wachstum. Demgegenüber setzt sich die Erosion bei Schweizer Gewerkschaften mit beschleunigtem Tempo fort. In den vergangen zehn Jahren, haben die dem SGB angeschlossenen Gewerkschaften 6,4 Prozent ihrer Mitglieder verloren.
Die der christlichen Travail Suisse angehörenden Arbeitnehmerorganisationen verloren in der gleichen Zeit sogar mehr als 11 Prozent. Allein im vergangenen Jahr schrumpften der SGB um 2,3 Prozent und Travail Suisse um 2,9 Prozent. Mit dieser Entwicklung schwindet auch der politische Einfluss der Gewerkschaften, der diesen hilft, Gesamtarbeitsverträge durchzusetzen oder flankierende Massnahmen zum Ausgleich von Arbeitsmarktliberalisierungen einzufordern. Am heutigen 1. Mai kämpfen die Gewerkschaften deshalb nicht nur für die Rechte der Arbeitnehmenden, sondern auch für ihre eigene Existenz.