Interview
Mitten in der Krise: Migros-Chef kündigt Hunderte neue Jobs an – und erklärt die neue Shopping-App

Fabrice Zumbrunnen führt den grössten Arbeitgeber der Schweiz. Im Interview mit CH Media sagt er, warum die Migros ausgerechnet jetzt ins Personal investiert, weshalb er die Alkohol-Politik nicht für scheinheilig hält und was die Nachfolge-App von «Le Shop» für die Konsumenten verändert.

Patrik Müller,
Drucken
Fabrice Zumbrunnen, Präsident Migros-Genossenschafts-Bund (MGB), fotografiert am 19. November 2020 am Migros Hauptsitz in Zürich.

Fabrice Zumbrunnen, Präsident Migros-Genossenschafts-Bund (MGB), fotografiert am 19. November 2020 am Migros Hauptsitz in Zürich.

Severin Bigler

Während in den Migros-Geschäften am Zürcher Limmatplatz emsige Betriebsamkeit herrscht, ist es auf der Chefetage im 19. Stock ruhig – viele Angestellte sind im Homeoffice. Fabrice Zumbrunnen, 50, vor drei Jahren zum jüngsten Chef der Migros-Geschichte gewählt, ist gern vor Ort. «Nicht nur, aber auch wegen der prächtigen Aussicht aus diesem Hochhaus», sagt der Neuenburger.

Das wahrscheinlich aussergewöhnlichste Jahr in der Migros-Geschichte neigt sich dem Ende zu. Wie wird es die Migros abschliessen?

Fabrice Zumbrunnen: Noch wissen wir nicht, wie das Weihnachtsgeschäft verläuft. Im Moment würde ich sagen: Geschäftlich ist 2020 ein gutes Jahr für die Migros. Aber ohne Corona würde es noch besser aussehen.

Bei Lebensmitteln und im Online-Handel ist die Migros eigentlich ein Corona-Profiteur.

So würde ich das nicht sagen. Wir haben auch Unternehmensbereiche – insbesondere das Gastrogeschäft und der Reiseanbieter Hotelplan – die sehr stark leiden. Wir sind in der Migros-Gruppe sehr breit aufgestellt, und das kommt uns nun zu Gute. Insgesamt gleichen die positiven Effekte, die Corona mit sich bringt, die negativen Effekte mehr oder weniger aus.

Das heisst, der Gewinn – letztes Jahr betrug er konzernweit 335 Millionen Franken – bricht nicht ein?

Auf Gruppen-Ebene wird es ein gutes Jahr sein. Es gibt ja nicht nur Corona-Einflüsse auf unser Geschäft, sondern wir spüren positiv auch unsere Portfolio-Bereinigung.

Sie sprechen die Verkäufe von Globus, Interio und Depot an? Die kamen gerade noch im richtigen Moment, vor Corona.

Ich meine vor allem die operative Leistung. In den vergangenen drei Jahren haben wir uns operativ stetig verbessert. Die erwähnten Verkäufe waren richtig, unabhängig von Covid.

Die Pandemie beschleunigt die Digitalisierung und viele strategische Entscheidungen in Unternehmen. Wann verkauft die Migros – nach Globus und dem Glatt-Zentrum – weitere Firmenteile?

Es ist nichts weiteres geplant, abgesehen vom bereits kommunizierten Verkauf unserer Gastro-Tochtergesellschaft Saviva. Covid beschleunigt im Übrigen auch unsere Investitionen. Projekte, die wir für 2022 geplant haben, werden nun vorgezogen, etwa den Ausbau von Lagerkapazitäten, weil unser Online-Geschäft schneller wächst.

Heisst das auch, dass bei der Migros – mit 90'000 Angestellten in der Schweiz der grösste Arbeitgeber – nächstes Jahr kein Stellenabbau geplant ist?

Wir haben dieses Jahr in mehreren Bereichen, vor allem im E-Commerce, Hunderte neuer Arbeitsplätze geschaffen, und dieser Trend wird sich 2021 fortsetzen. Zugleich sind – zum Beispiel bei Hotelplan – nach wie vor viele Mitarbeitende in Kurzarbeit und es fallen leider Stellen weg.

Hotelplan ist vergleichsweise klein. Aber insgesamt steht bei Migros keine Entlassungswelle an?

Nein. Wobei Covid nicht nur Hotelplan trifft. Aber wir sind ein stabiler und verlässlicher Arbeitgeber, auch in Krisenzeiten. Wir investieren und schaffen in zukunftsträchtigen Bereichen neue Jobs. Zudem bemühen wir uns, Mitarbeitende aus Firmen mit Umsatzeinbrüchen in wachsenden Geschäftsfeldern einzusetzen. So sind beispielsweise Hotelplan-Angestellte zu Galaxus gewechselt. Wir investieren viel in die Aus- und Weiterbildung und ermuntern unsere Kolleginnen und Kollegen, diese Angebote zu nutzen.

Das Online-Geschäft boomt: Galaxus-Lager in Wohlen AG.

Das Online-Geschäft boomt: Galaxus-Lager in Wohlen AG.

Valentin Flauraud / KEYSTONE

Ohne grosse Ankündigung haben Sie aus «leshop.ch» nun «Migros Online» gemacht. Offenbar geschah dies zurückhaltend, weil Sie die Nachfrage sonst nicht bewältigen können. Warum dieser Wechsel?

In der neuen App steht die Migros im Vordergrund. Als Marktleader wäre es falsch, diesen für die Zukunft so wichtigen Shop nicht mit unserer Hauptmarke anzuschreiben.

Eine reichlich späte Erkenntnis!

Dieses Phänomen gibt es im Detailhandel international, auch in Deutschland und Frankreich. Lange Zeit war die Skepsis gross, ob Food für den E-Commerce wirklich ein Geschäft ist. Bei uns hat es zudem mit der Geschichte von «Leshop.ch» zu tun, den wir vor vielen Jahren übernommen haben und der vor allem auch in der Westschweiz durchaus erfolgreich ist. Dort beträgt der Online-Anteil an unserem Lebensmittelumsatz 4 Prozent, doppelt so viel wie zurzeit in der Deutschschweiz. 4 Prozent landesweit – das sehen wir als Ziel, das recht kurzfristig erreichbar ist.

Was hat der Kunde vom Wechsel zu «Migros Online?

Das Sortiment von 12 500 Artikeln enthält nun über 2000 zusätzliche Migros-Produkte Zudem haben wir den Service verbessert, man kann auch auf dem Smartphone sehr einfach einkaufen. Wir wollen den Kunden ein unkompliziertes Einkaufserlebnis bieten.

Interview mit Abstand: Fabrice Zumbrunnen im Gespräch mit den Redaktoren Patrik Müller und Gabriela Jordan am Migros-Hauptsitz in Zürich.

Interview mit Abstand: Fabrice Zumbrunnen im Gespräch mit den Redaktoren Patrik Müller und Gabriela Jordan am Migros-Hauptsitz in Zürich.

Severin Bigler

In der digitalen Migros gibt es auch Alkohol. Wann ist das auch in den Filialen der Fall?

Dass wir dort keinen Alkohol verkaufen, ist in den Statuten verankert. Darüber befinden die Delegiertenversammlung und unsere Genossenschafter, nicht die Geschäftsleitung.

Fänden Sie eine Statutenänderung gut?

Das Alkoholverkaufsverbot in den Filialen gehört zur Geschichte der Migros und unterscheidet sie von der Konkurrenz. Die Migros ist ganz speziell und unverkennbar positioniert, nicht nur wegen dieser Statutenbestimmung, aber auch deshalb.

Sie setzen sich also nicht für die Aufhebung dieses Verbots ein?

Das ist ein Thema, das mich nicht beschäftigt. Wir haben in unserer Gruppe ja auch Denner, der ein breites, hervorragendes Angebot an Wein und anderen alkoholhaltigen Getränken hat.

Neben jeder grösseren Migros steht ein Denner, der Alkohol verkauft. Ist das nicht scheinheilig?

Nein, es sind unterschiedliche Positionierungen, und der Kunde entscheidet, wo er was einkauft. Denner hat auch ein reichhaltiges Angebot an Frischprodukten.

Wenn Migros auf Online setzt, heisst das auch, dass mehr und mehr Filialen verschwinden?

Nein. Wir beobachten mehrere Trends. Einer geht Richtung Kleinformate. Er war schon vor Corona ersichtlich, aber jetzt, wo viele Leute Homeoffice machen, kaufen sie in der Nähe ein und kleinere Läden profitieren davon. Der andere Trend: Grössere Filialen müssen zu einem Erlebnis werden, zu etwas, das digitales Einkaufen nicht bieten kann. Es geht um die Inszenierung des Sortiments, beispielsweise um frische Produkte, um Innovationen und tollen Service.

Falls der Homeoffice-Anteil in weiten Teilen der Bevölkerung hoch bleibt: Ist das die Rettung kleiner Läden in Quartieren und auf dem Land, die dem Tode geweiht schienen?

Wir gehen davon aus, dass das Homeoffice zu einem gewissen Teil bestehen bleiben wird. Dadurch profitieren kleinere Läden auf jeden Fall. Die Leute gehen häufiger in der Nähe einkaufen.

Die künftigen Filialen - hier der eben eröffnete neue Migros-Laden in Baden - enthalten Selbstabfüll-Anlagen, um Verpackung zu vermeiden.

Die künftigen Filialen - hier der eben eröffnete neue Migros-Laden in Baden - enthalten Selbstabfüll-Anlagen, um Verpackung zu vermeiden.

Pressedienst

Weihnachten ist für den Detailhandel die wichtigste Zeit des Jahres. Können Sie zurzeit überhaupt budgetieren?

Das ist enorm schwierig, für uns alle. In meinem Wohnkanton sind private Zusammenkünfte auf fünf Personen limitiert. Unsere Familie – wir haben zwei Kinder – kann keine andere Familie einladen, wenn die Regeln so bleiben. Und im Kanton Genf müssen wir zurzeit alle Non-Food-Läden geschlossen halten. Niemand weiss, wie die Lage vor und während Weihnachten sein wird. Darum schauen auch wir bei der Migros täglich auf die aktuellen Infektionszahlen. Je nachdem, wie die Leute feiern werden, könnten zum Beispiel ganz andere Produkte gefragt sein.

Gibt es Dinge, die schon klar sind?

Ja, im Online-Geschäft erwarten wir Rekordumsätze und bereiten uns entsprechend vor.

Könnte es zu einem Kollaps kommen, wenn alle ihre Geschenke kurz vor Weihnachten bestellen?

Die Logistik ist eine grosse Herausforderung. Der «Black Friday» ist ein erster Test. Wir sind gut vorbereitet und arbeiten auch eng mit der Post und unseren anderen Partnern zusammen. Wir haben unternommen, was möglich ist. Aber klar: Wenn alle erst am 23. Dezember bestellen, dann wird es schwierig.

Wie nehmen Sie denn die Konsumstimmung wahr, wird die Bescherung an Weihnachten diesmal kleiner ausfallen?

Es werden auf jeden Fall besondere Weihnachten sein. Wir können uns nicht auf die Erfahrungen stützen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gesammelt haben. Und das gilt nicht nur fürs Geschäftliche. Auch als Privatperson stehe ich noch vor vielen offenen Fragen. Werden wir in der Familie etwa Weihnachtslieder singen oder nicht? Oder mit Maske? Klar ist, dass in diesen schwierigen Zeiten alle das Bedürfnis nach Nähe und Familie haben. Ich hoffe daher schon auf einen gewissen magischen Weihnachtseffekt.

Kann es sein, dass ein schlechtes Weihnachtsgeschäft der Migros noch das Geschäftsjahr verhagelt?

Im Non-Food sind Topumsätze sehr unwahrscheinlich. Im Food-Bereich lässt es sich schwieriger abschätzen. Wenn die ganze Schweiz zu Hause bleibt, nicht reist und weniger Einkäufe im nahen Ausland macht, könnte dies mögliche Verluste kompensieren.

Und die Aktions- und Rabattschlacht, findet die trotzdem statt?

Aktionen wird es selbstverständlich weiterhin geben. Wir sind nicht alleine auf dem Markt und wollen für unsere Kunden so attraktiv wie möglich sein. Wir sind daran, für Hunderte von beliebten Produkten unsere Preise dauerhaft zu senken.

Blickt auf ein erstaunlich gutes Jahr zurück: Fabrice Zumbrunnen.

Blickt auf ein erstaunlich gutes Jahr zurück: Fabrice Zumbrunnen.

Severin Bigler

Planen ist momentan sehr schwierig. Stattdessen müssen Unternehmen schnell und situativ entscheiden. Ist die dezentrale Genossenschaftsstruktur der Migros hier kein riesiger Nachteil?

Gerade diese Krise hat gezeigt, dass wir imstande sind, sehr schnell zu entscheiden. Viele Dinge funktionieren bei uns ohnehin längst zentral, etwa der Einkauf und die Logistik. Wo es Sinn macht, wurden die Kompetenzen zusammengelegt.

Trotzdem: Wäre es für Sie nicht einfacher, in solch unsicheren Zeiten als CEO mit allen Kompetenzen über das ganze Migros-Imperium entscheiden zu können?

Einfacher vielleicht schon, aber nicht besser. Die richtigen Entscheide zu treffen, und dies unter hohem Zeitdruck: Das ist eher eine Frage der Unternehmenskultur als der Struktur und des Organigramms. Denn selbst wenn es statt dem Migros-Genossenschafts-Bund und zehn regionalen Genossenschaften nur eine juristische Einheit gäbe, würden Hürden im Prozess entstehen, falls die Bereitschaft zum Zusammenarbeiten fehlt. Die Migros ist breit aufgestellt, und sie kann überall auf kompetente Personen zählen. Zum Glück hängt nicht alles von mir allein ab!

Die Genossenschaftsstruktur aufzubrechen, das gehört also nicht zu Ihren Zielen? Coop, die dies vor Jahren gemacht hat, wird dafür ja vielfach gelobt.

Für dieses Thema bin ich die falsche Ansprechperson. Meine Aufgabe ist, die Gruppe möglichst gut operativ zu führen. Dabei nehme ich mir stets vor, nach dem Prinzip «Überzeugen statt Befehlen» vorzugehen. Das hilft mir selber, die richtigen Gedanken zu machen und selbstkritisch zu bleiben. Vielleicht liege ich auch einmal falsch – dann lasse ich mich gerne überzeugen und überraschen. Ich bin jemand, der seine Meinung auch mal ändern kann.

Passiert das häufig?

Es kommt ab und zu vor. Als Topmanager zu meinen, man wisse alles besser, kann gefährlich sein. Besonders in einer Welt, die sich so schnell verändert. Zurzeit bin ich ja nicht einmal in der Lage, Prognosen für unser Weihnachtsgeschäft zu machen. (Lacht)

Was ist Ihr Rezept gegen das Besserwissen?

Entscheidend ist, die Leute zu ermutigen, selber die Initiative zu ergreifen und Entscheidungen zu wagen. So wird Energie im Unternehmen frei. Und es macht erst noch allen mehr Spass. Beides zusammen bringt Erfolg, und den brauchen wir während Corona und nach Corona.

Zur Person: Fabrice Zumbrunnen, Migros-Chef

Fabrice Zumbrunnen, 50, ist seit Anfang 2018 CEO und Präsident der Generaldirektion des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB), als Nachfolger von Herbert Bolliger. Er stammt aus La Chaux-de-Fonds (NE), wo er 1993 nach seinem Wirtschaftsstudium an der Uni Neuenburg auch seine erste Arbeitsstelle annahm: Filialleiter bei Coop. Bei der Migros begann Zumbrunnen 1996 als Ausbilder, Projektleiter und Verkaufschef der Genossenschaft Neuenburg-Freiburg. 2001 stieg er ein erstes Mal auf und wurde Marketing- und Logistik-Chef. 2005 folgte der nächste Karriereschritt: Geschäftsleiter. 2012 wechselte er nach Zürich in die Generaldirektion des MGB, als Personal- und Kulturchef. Zumbrunnen, verheiratet und Vater zweier Kinder, arbeitet in Zürich und verbringt die Wochenenden in seiner Westschweizer Heimat. (pmü)