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Der Stellenabbau bei Novartis ist nur einer von vielen in den vergangenen Monaten. Massenarbeitslosigkeit wird es nicht geben – aber dem Mittelstand droht eine Lohnstagnation.
Über 2000 Stellen gehen beim Pharmakonzern Novartis verloren. Es ist der grösste Abbau in der jüngeren Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Allerdings ist Novartis bloss das letzte Beispiel in einer mittlerweile langen Reihe von Massenentlassungen. Erst im Juni kam es zum grössten Stellenabbau im Detailhandel, den die Schweiz bisher gesehen hat. Zuvor wurden schon Sparprogramme von 1000 und mehr Arbeitsplätzen angekündigt bei SBB und Schweizerischer Post, General Electric und Credit Suisse. Noch viel länger ist die Liste der Unternehmen, die über 100 Jobs wegstrichen, darunter Namen wie BASF, Nestlé, Swisscom oder Postfinance (Siehe Box unten).
Zumeist werden die Abbauprogramme ähnlich begründet. Einfachere Arbeiten müssten automatisiert werden oder an billigere Standorte verlagert, um mit der Konkurrenz mithalten zu können. Novartis-CEO Vas Narasimhan sagte: «Es stimmt, dass es für sogenannte «blue collar»-Jobs schwieriger wird (einfachere Arbeiten, die Red.)» Die Postfinance begründete ihre Massenentlassung mit der digitalen Revolution, die «im Banking rasant voranschreitet». So entsteht das Bild eines Wettrennens von Mensch gegen Maschine: Wer mit seinen Fähigkeiten nicht mithalten kann, ist den Job los.
Novartis ist der letzte Fall in einer langen Reihe. 2018 verlagerte Nestlé IT-Jobs nach Spanien, am Hauptsitz in Vevey kostete das 450 Jobs. Die Swisscom vermied Massentlassungen, auch so fallen rund 700 Jobs weg. Bei der Postfinance waren es 500 bis 2020. Im Juni wurden 1200 Mitarbeiter vom italienischen Modehändler OVS entlassen. Es war die grösste Massenentlassung im Schweizer Detailhandel.
2017 lauten die Namen anders, das Spiel ist das gleiche. Die Versicherung Zurich strich 123 Stellen, die Credit Suisse gar 1000. Die Ammann Gruppe, die ehemalige Firma von Johann Schneider-Ammann, versetzte 130 Stellen ins Ausland. Novartis sparte schon 2017 Stellen ein, netto 150 waren es. Bei Roche fielen 235 Jobs weg. Im Dezember folgt der Tiefpunkt: bei General Electric verschwinden 1400 Jobs.
Und auch 2017 war nur die Fortsetzung von 2016. Die Post kündigte an: «Rund 1200 Mitarbeiter könnten von einer Veränderung betroffen sein.» Der Chemiekonzern BASF sparte 180 Stellen, die SBB über mehrere Jahre hinweg 1400. Bei General Electric sind nach der ersten Sparrunde rund 900 Jobs weg. Die Schuhhändler Bata und die Kleiderkette Blackout schliessen die Tore, was Hunderte von Jobs kostet.
Die Ängste werden nicht geringer, wenn Studien von renommierten Ökonomen kursieren, wonach in der Europäischen Union zwischen 35 und 60 Prozent aller Jobs gefährdet seien. Durch die Digitalisierung werde es möglich Arbeiten zu automatisieren, die sonst mittelqualifizierte Arbeitnehmer ausüben in Büros, Industrie oder im Transport. Dieser Trend zu höheren Qualifikationen zeigt sich auch in der Schweiz. Gemäss Zahlen des Industrieländervereins OECD stieg die Zahl der hochqualifizierten Jobs in den letzten anderthalb Jahrzehnten um 18 Prozent. Hingegen hat die Beschäftigung von mittelqualifizierten Mitarbeitern in der gleichen Zeit insgesamt abgenommen, um total 7 Prozent.
Doch Ökonomen der Universität Zürich geben Entwarnung, teilweise zumindest. In einer Studie mit dem Titel «Aufstieg der Maschinen» bezeichnen sie die Ängste als übertrieben. Bislang hätten sich noch alle Prognosen als falsch erwiesen, wonach Roboter bald die Menschheit arbeitslos machen würden. Die Zürcher Ökonomen nehmen etwa den «Spiegel» auf die Schippe. Das deutsche Magazin titelte 1978 schon «Die Computer-Revolution – Fortschritt macht arbeitslos» und sagte Massenarbeitslosigkeit und eine «soziale Katastrophe» voraus.
Computer und Roboter haben nach Ansicht der Ökonomen einen anderen Prozess ausgelöst. Zwar seien tatsächlich Arbeitsplätze verschwunden, wo Automatisierung von Routinearbeiten möglich war. Gleichzeitig entstanden jedoch wiederum Stellen dort, wo der technologische Fortschritt langsamer vorankam. Oder es tauchten Berufe auf, die zehn Jahre zuvor nicht einmal in Science-Fiction-Büchern standen: Webdesigner, Mechatroniker oder Drohnen-Operator.
Dennoch halten es die Zürcher Ökonomen nicht mit Professor Pangloss: Anders als die Figur des französischen Philosophen Voltaire behaupten sie nicht, es werde sich zwangsläufig alles zum Besten entwickeln. Die Jobs werden zwar nicht weniger durch die Digitalisierung. Aber es werden andere Jobs nachgefragt.
Die Ökonomen sprechen von einer Polarisierung. Was mittel-qualifizierte Arbeiter erledigen können, wird eher von Algorithmen übernommen. Hochqualifizierte Arbeiten hingegen lassen sich nicht automatisieren. Ebenso wenig verschwinden was die Ökonomen «einfache Arbeiten» nennen: Kellner, Putzpersonal oder Kinderbetreuer. Diese Polarisierung kann sich auf die Löhne auswirken. In den USA hat insbesondere die Mittelklasse unter schwachem Lohnwachstum gelitten. Für die Schweiz zeigt eine Studie ein ähnliches Bild. Mehr Lohn gab es vor allem in den geringbezahlten Berufen im Verkauf und im Service – und für Manager und Fachkräfte. Hingegen wird kaum mehr verdient als Anfang der Neunzigerjahre in Berufen mit automatisierbaren Fähigkeiten, wie etwa Sachbearbeiter.
Die Digitalisierung erfordert zudem eine heikle Umstellung: Laufend sind andere Fähigkeiten gefragt. Und dafür sei die Schweiz nicht wirklich gut gerüstet, finden Ökonomen der OECD. «Es gibt immer mehr Hinweise dafür, dass in der Schweiz die vorhandenen Fähigkeiten nicht zu den offenen Stellen passen», schreiben sie in einer Studie. So hätten OECD-Daten gezeigt, dass volle 35 Prozent der Arbeitnehmer nicht die angemessene Qualifikation für ihre Arbeit hätten. Noch zehn Jahre zuvor seien es deutlich weniger gewesen. Zumeist sei die Qualifikation nicht ausreichend gut gewesen. Im Gegensatz zu Österreich, wo es zu viele Überqualifizierte habe.
Um dieses Missverhältnis aus der Welt zu schaffen, müsste das Bildungssystem noch flexibler werden, auch die Berufsbildung. Die OECD-Ökonomen regen etwa an, mehr Daten zu erheben, um eine Feinanpassung zu ermöglichen. Etwa um akademische Kernfähigkeiten wie Lesen und Rechnen besser in die Berufsbildung einpassen zu können. Denn die OECD-Ökonomen halten offenbar diese heilige Kuh im Schweizer Bildungssystem für verbesserungsfähig: ein möglicher Grund für das Missverhältnis von geforderten und vorhandenen Fähigkeiten. So heben sie zwar die Vorzüge der Berufsbildung hervor, streichen aber auch den Schweizer Sonderfall heraus: Es würden andere Fähigkeiten vermittelt als in den meisten anderen OECD-Ländern, wo akademische Fähigkeiten stärker betont würden.