Startseite
Wirtschaft
Pierin Vincenz' wilde Einkaufstour kommt Raiffeisen teuer zu stehen. Das Augenmerk liegt nun aber auf dem Reformprogramm, mit dem sich die etwas angestaubte Genossenschaft fit machen will für die Zukunft.
Die Altlasten aus der Ära des früheren Bankchefs Pierin Vincenz haben Spuren hinterlassen in der Raiffeisen-Rechnung. Am sichtbarsten ist das beim Gruppengewinn, der vergangenes Jahr von 917 Millionen Franken auf 541 Millionen einbrach, ein Minus von 41 Prozent. Im Bestreben, die Bank zu einem breiter gefächerten Finanzkonzern auszubauen, hatte Vincenz während seiner Amtszeit Beteiligungen für rund 1 Milliarde Franken zusammengekauft. Dabei wurden, wie der Bericht von Professor Bruno Gehrig zur Aufarbeitung des Debakels zeigte, oft überhöhte Preise bezahlt, und bei mancher Transaktion soll Vincenz auch in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Die Staatsanwaltschaft Zürich ermittelt deswegen seit geraumer Zeit gegen Vincenz wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung.
Bisher war Raiffeisen von einem Schaden für Raiffeisen im Zusammenhang mit den Beteiligungskäufen von maximal 300 Millionen Franken ausgegangen. An der Bilanzmedienkonferenz vom Freitag brachte Verwaltungsratspräsident Guy Lachappelle etwas mehr Licht ins Dunkel. Demnach hat Raiffeisen in dieser Angelegenheit zulasten der Rechnung 2018 Wertberichtigungen und Rückstellungen gebildet im Umfang von 270 Millionen Franken. Davon sind 69 Millionen Rückstellungen im Zusammenhang mit der jüngsten vollständigen Übernahme der Arizon Sourcing AG. Diese, bisher ein Joint Venture mit der Softwarefirma Avaloq, hat das neue Kernbankensystem Raiffeisens entwickelt, und die Führung der Bank hat strategisch entschieden, dieses künftig in Eigenregie zu betreuen und weiterzuentwickeln.
Weitere 201 Millionen Franken an Wertberichtigungen und Rückstellungen hat Raiffeisen gebildet als Folge der Neubeurteilung der Werthaltigkeit von Beteiligungen aus der Ära Vincenz. Allein 125 Millionen wurden zurückgestellt für die Gesellschaft KMU Capital, wie der neue Raiffeisen-Chef Heinz Huber sagt. KMU Capital, die Raiffeisen zunächst mehrheitlich und mittlerweile ganz gehört, versammelt unter ihrem Dach Beteiligungen an «mehreren Dutzend Unternehmen». Dieses Portfolio habe man nun «konservativ neu bewertet», sagt Huber: «Wir wollten uns ein realistisches finanzielles Bild verschaffen.» Die andere namhafte Beteiligungsgesellschaft in den Raiffeisen-Beständen, Investnet, die am Anfang der Ermittlungen gegen Vincenz stand, ist von der Bank dagegen rückwirkend per 1. Januar 2018 abgewickelt und dekonsolidiert worden.
Ohne die Sonderbelastung von 270 Millionen Franken würde Raiffeisen für 2018 einen Gewinn von 811 Millionen ausweisen, also immer noch gut 100 Millionen weniger als im Vorjahr. Huber relativiert aber, 2017 sei «ein absolutes Rekordjahr» gewesen. Im Vergleich zu den Jahren davor sei Raiffeisen operativ besser unterwegs. Huber belegt dies auch mit dem Erfolg aus dem Zinsengeschäft und jenem des Kommissions- und Dienstleistungsgeschäfts, die beide zugenommen haben. Oder mit dem Hypothekarvolumen, das um 4 Prozent auf 180 Milliarden anstieg. Damit sei Raiffeisen schneller gewachsen als der Schweizer Hypothekenmarkt (+3,6 Prozent), und man habe den Marktanteil von 17,5 auf 17,6 Prozent weiter ausgebaut. Von übermässigen Risiken, die Raiffeisen bei der Hypothekenvergabe eingehe und vor denen die Schweizerische Nationalbank nicht müde wird zu mahnen, will Huber nichts wissen.
Es gibt aber auch negative Entwicklungen. So stieg der Geschäftsaufwand um 50 Millionen oder 3,2 Prozent auf gut 1,94 Milliarden. Dies zum einen wegen der Kinderkrankheiten und damit verbundenen Verzögerung des neuen Kernbankensystems, dessen Kostenrahmen von einer halben Milliarde obendrein überschritten wurde. Zum anderen nahm auch der Personalaufwand zu, weil Raiffeisen die Belegschaft um 136 Personaleinheiten aufgestockt hat. Spuren hinterlassen hat sodann der Verkauf der Notenstein La Roche Privatbank an Vontobel: Als Folge erodierte das Depotvolumen von 47,3 auf 29,8 Milliarden Franken. Aus dem Notenstein-Verkauf habe ein Gewinn von 68 Millionen Franken resultiert, sagt Huber.
Das Wachstum der Hypotheken sowie der Zufluss an Neugeld von netto 6,3 Milliarden Franken ist für Huber Beleg dafür, dass «das Kundenvertrauen hoch geblieben ist». Auch habe Raiffeisen vergangenes Jahr rund 10'000 neue Kunden gewonnen. Das Verdienst gebührt laut Lachappelle vor allem den einzelnen Raiffeisenbanken, die vor Ort gute Arbeit leisteten. Um dies zu untermauern, hatte Raiffeisen mit Ivan Köpfli extra einen Bankleiter an die Medienkonferenz geladen. Köpfli, Chef der Raiffeisenbank Rigi, legte für sein Institut mit sieben Geschäftsstellen Zahlen vor, die durchwegs Wachstum zeigen. Laut Köpfli hat es im Zusammenhang mit der Affäre Vincenz und den schwerwiegenden Mängeln in dessen Aufsicht durch den alten Raiffeisen-Verwaltungsrat viele Fragen verunsicherter Kunden gegeben, doch diese hätten klar unterscheiden können zwischen den Vorgängen in der Raiffeisen-Zentrale in St.Gallen und dem Geschäft ihrer lokalen Raiffeisenbank.
Köpfli räumt ein, 2018 sei «ein intensives Jahr» gewesen, und im ersten Semester sei man hinter den eigenen Erwartungen geblieben. Er führt dies aber hauptsächlich auf das neue Kernbankensystem und dessen Macken zurück, was seine Belegschaft «zeitlich ziemlich beansprucht» habe.
Lachappelle rechnet damit, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren gegen Vincenz «Ende Jahr abgeschlossen» sein dürften. Auf Grundlage des Gehrig-Berichts und der Erkenntnisse der Strafbehörden behält sich Raiffeisen Regressansprüche gegen frühere Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder vor. Gegen Vincenz, der alle Vorwürfe bestreitet, hat die Bank Strafanzeige eingereicht.
Um Eigenmächtigkeiten wie jene des früheren Chefs künftig zu verhindern und sich zu modernisieren, hat die Bank das Erneuerungsprogramm «Reform 21» aufgegleist. Am weitesten fortgeschritten ist die personelle Auffrischung: Der Verwaltungsrat ist rundum mit neuen Köpfen besetzt. In der Geschäftsleitung bestehen nach mehreren Abgängen noch Vakanzen, die aber laut Huber in den kommenden Wochen und Monaten besetzt werden sollen.
Das weitere Reformprogramm gliedert Lachappelle in drei Teile: erstens die Corporate Governance, zweitens den künftigen Leistungskatalog, den Raiffeisen Schweiz für die einzelnen Raiffeisenbanken erbringt, und drittens das Abgeltungsmodell dafür. Derzeit arbeitet man an der Corporate Governance, also der guten Unternehmensführung, wie Lachappelle sagt. Man habe damit Mitte Januar begonnen, «unter starkem Beizug der 246 einzelnen Raiffeisenbanken», denen Raiffeisen Schweiz gehört, die bisher aber mehr oder weniger reine Befehlsempfänger waren.
Lachappelle sieht drei Punkte, die es zu klären gilt: erstens das künftige Funktionieren der Genossenschaft. Konkret: Wie werden künftig Entscheide auf Gruppenebene gefällt, und wie interagiert die Zentrale mit den einzelnen Raiffeisenbanken? Ein Thema dabei ist auch die Gestaltung der Delegiertenversammlung. Momentan sind es 164 Delegierte, die proportional zur Anzahl Mitglieder in den einzelnen Wahlkreisen bestimmt werden. Zur Diskussion steht aber auch das Modell «eine Bank, eine Stimme», und eventuell könne man sich auch ein parlamentarisches System vorstellen, sagt Lachappelle. Bis im Sommer wolle man zwei bis drei Varianten mit den Banken diskutieren.
Ebenfalls im Sommer will man in Grundzügen Punkt zwei verabschiedet haben. Dabei geht es um die Eignerstrategie, also um die Klärung des Verhältnisses von Raiffeisen Schweiz zu den einzelnen Banken. Diese fordern als Folge der Affäre Vincenz mehr Mitsprache. Erste Entwürfe, wie das künftig aussehen könnte, seien in Diskussion. Drittens geht es laut Lachappelle um «Solidarität und Kultur». Konkret stellen sich Fragen wie: Wie gehen Grosse mit Kleinen um, wie steht es um die Diversität in der Gruppe, wie um den Umgang mit den Sprachregionen?
Laut Lachappelle will man die Erkenntnisse in die Statuten und in die Eignerstrategie einfliessen lassen. Diese soll im November verabschiedet werden. Zu definieren ist auch der künftige Leistungskatalog und dessen Finanzierung. Angedacht ist, dass die einzelnen Raiffeisenbanken neu nicht mehr alle Services von Raiffeisen Schweiz beziehen müssen, sondern gewisse Leistungen wie etwa die Marktbearbeitung selber an die Hand nehmen können. Klar ist ferner: Eine Umwandlung der Genossenschaft Raiffeisen Schweiz in eine AG wird zwar geprüft, weil die Finanzmarktaufsicht Finma dies wünscht. Lachappelle und Huber machen aber keinen Hehl daraus, dass sie davon wenig bis nichts halten.
Geschäftlich sieht Huber viel Potenzial in der persönlichen Beratung. Dies zum einen bei Unternehmenskunden. Für diese hält man Dienstleistungen unter anderem in den Raiffeisen-Unternehmerzentren bereit, von denen das fünfte diesen Frühling eröffnet wird. Zum anderen hat man Kunden bei den Themen Anlegen und Vorsorgen sowie Wohnen im Visier. Anlegen und Vorsorgen ist relativ beratungsintensiv, und gerade beim Anlegen muss Raiffeisen nach dem Verkauf von Notenstein selber auf einen grünen Zweig kommen, um die enorme Abhängigkeit vom Zinsengeschäft zu mindern und die Erträge besser auszubalancieren. Punkto Wohnen sagt Huber, 80 Prozent der Gebäude in der Schweiz seien älter als 40 Jahre und «in der Regel nicht so gut unterhalten». Alleine die Raiffeisen-Kunden hätten bei Immobilien einen Sanierungsbedarf von einer halben Milliarde Franken. Hier will Huber mit neuen Produkten punkten.
Für 2019 geht Huber davon aus, dass das Hypothekenwachstum leicht nachgibt. Dies, weil sich das Wirtschaftswachstum und die Zuwanderung abschwächen. Bei den Hypotheken wolle Raiffeisen ungefähr im Gleichschritt mit dem Markt wachsen. Eine Preiskorrektur auf dem Immobilienmarkt sieht Huber, trotz rekordhoher Preise, nicht. Und auch eine Zinswende sei nicht in Sicht.