Verschlüsse
Nestlé, Rivella und Co. in Aufruhr: Umstrittenes EU-Gebot für PET-Flaschendeckel sorgt für rote Köpfe

Die Verschlüsse von Cola-, Pepsi oder Evian-Getränken müssen künftig an den Flaschen fixiert sein. Das Ziel: Saubere Meere und gesunde Wale und Delfine. Doch die neue EU-Richtlinie könnte böse Folgen haben.

Benjamin Weinmann
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Die EU will die heute üblichen Deckel von Plastikflaschen verbieten. Das hat auch Folgen für die Schweiz.

Die EU will die heute üblichen Deckel von Plastikflaschen verbieten. Das hat auch Folgen für die Schweiz.

CH Media

Sie ist zurzeit der grosse Online-Hype: Die Bottle Cap Challenge. Internetnutzer laden Videos von sich hoch, in denen sie den Deckel einer Getränkeflasche mit einem Fusskick abdrehen bis er wegspickt. Auch Stars wie Kendall Jenner, Justin Bieber und Jason Statham haben zum Internetphänomen beigetragen. Solche Videos werden in Zukunft allerdings nicht mehr möglich sein – zumindest nicht in Europa. Grund dafür ist eine neue EU-Richtlinie, die 2024 für alle Mitgliedsländer in Kraft tritt, de facto damit auch für die Schweiz.

Sie schreibt vor, dass Plastik-Deckel von Einweg-Plastikflaschen, Tetrapack-Säften und Milchbehälter an der Flasche fixiert sein müssen. Denn heute würden viele Deckel nicht zusammen mit der Flasche entsorgt. Sie werden mit dem herkömmlichen Müll verbrannt oder landen an Stränden, in Ozeanen und dort wiederum in den Bäuchen von Walen und Delfinen. Mit einem befestigten Deckel, so die Überlegung der EU-Behörden, würden sowohl der Umwelt- als auch der Tierschutz gefördert. Die Direktive ist Teil der neuen EU-Vorschriften vom Juni 2019, die auch Einweg-Plastikgeschirr, -Trinkhalme und –Ballonstäbchen verbieten will.

Neue Regel führt zu mehr Plastikverbrauch

Jean-Claude Würmli, Geschäftsführer vom Verein PET Recycling Schweiz, sagt, dass die «Deckel-Direktive» der EU auch die Schweiz beschäftigen werde. «Denn auch wenn hier keine entsprechende Richtlinie ausgearbeitet wird, werden die Flaschen mit den neuen Verschlüssen auf dem Schweizer Markt landen.» Grundsätzlich sei es natürlich wünschenswert, dass alle Deckel gesammelt und dem Recycling zugeführt würden. In der EU ist die Rede von zwei Prozent der Deckel, die verloren gehen. Würmli schätzt den Wert hierzulande ähnlich hoch. Sie dürften im herkömmlichen Müll landen und verbrannt werden.

Aktuell sei noch vieles unklar, da es noch keinen einheitlichen Standard gebe, sagt Würmli. Er meldet zudem Zweifel an am gewünschten Effekt. So gehe man davon aus, dass die Deckel wegen der Fixierung deutlich schwerer sein werden.

Da ist es fraglich, inwiefern ökologische Einsparungen erzielt werden können, wenn mehr Material für die Deckel verwendet wird.

Zudem bestehe eine noch grössere Gefahr, nämlich das Ende des «Luft-raus-Deckel-drauf-Prinzips». Diese Idee propagiere man in der Schweiz mit viel Aufwand seit Ende der 90er-Jahre. Sie sorgt dafür, dass die Konsumenten ihre PET-Flaschen zerdrücken, bevor sie sie in den Sammelbehälter werfen. Ob das Zerdrücken mit neuartigen Deckeln ebenfalls so einfach möglich sei, sei fraglich. «Dies hätte für uns weitreichende Folgen», sagt Würmli. «Müssten wir das gesamte Material unzerdrückt zurücknehmen, würde das zu einem Drittel mehr Volumen auf der Sammeltour führen und damit zu mehreren tausend Zusatztransporten.»

Auch Rivella ist betroffen

Der Recycling-Verein rechnet mit Mehrkosten von mehreren Millionen Franken und einer stärkeren Umweltbelastung. Man sei derzeit im engen Austausch mit der Industrie; mit den Flaschen- und Flaschendeckelproduzenten sowie den Getränkeherstellern. Eine Rivella-Sprecherin bestätigt ebenfalls, mit seinen Lieferanten in Kontakt zu sein, um über allfällige Neuerungen in Kenntnis gesetzt zu werden. Und bei Nestlé heisst es, man arbeite zurzeit an der bestmöglichen Variante für die Nestlé-Getränke. Zwar geht der Nahrungsmittelmulti davon aus, dass dadurch 15 bis 25 Prozent mehr Plastik nötig sein werden, man werde sich aber an die Richtlinien halten. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace beurteilt die neue Regel weder positiv noch negativ. Ein Sprecher sagt:

Wenn ich Plastikmüll in meine Badewanne werfe, läuft die irgendwann über, egal ob sich der Deckel auf der Flasche befindet oder nicht.

Das Abfallproblem könne nur gelöst werden mit alternativen Mehrweg-Behältern, die wieder aufgefüllt werden können.

Einer der weltweit führenden Deckelproduzenten befindet sich in Eschlikon im Kanton Thurgau. Die Firma Corvaglia, die sich in Familienbesitz befindet, zählt 300 Angestellte und stellt jährlich knapp 10 Milliarden Deckel für PET-Flaschen her. Produziert wird am Hauptsitz sowie in Mexiko und seit diesem Jahr auch in den USA. Zu den Kunden gehören unter anderem die grossen Vier der Getränkeindustrie: Coca-Cola, Pepsi, Danone und Nestlé. Wer sich zum Beispiel in Paris eine Cola-PET-Flasche kauft, oder in Mexiko ein Mineralwasser von Danone, schraubt vor dem Trinken einen Thurgauer Deckel ab.

«Kritische Stimmen waren chancenlos»

Für Corvaglia-Chef Michael Krueger ist klar: «In fünf Jahren werden wir in der Schweiz nur noch neue Verschlüsse mit Flaschenfixierung produzieren.» In der EU seien die neuen Plastik-Richtlinien quasi in Rekordzeit verabschiedet worden im Zuge der Debatte über die Meeresverschmutzung. «Kritische Stimmen waren chancenlos», sagt Krueger. Zu diesen habe auch Corvaglia gezählt. «Die neuen Deckel werden das unsachgemässe Wegwerfen von Plastik, also das Littering, nicht verhindern. Die Intention der EU im nötigen Kampf für saubere Meere ist löblich, aber der Weg dahin ist falsch.»

Zurzeit herrsche in der gesamten Branche eine grosse Unsicherheit, sagt Krueger. «Niemand weiss, worauf sie sich einstellen müssen, da es noch keine konkreten Standards gibt.» Bis Ende Jahr solle hier mehr Klarheit herrschen, sagt Krüger, der dem EU-Industrieausschuss vorsteht, zu dem auch die grosse Getränkehersteller wie Cola und Nestlé gehören. Sie sind von der EU aufgefordert, mögliche Lösungen zu präsentieren. Danach dürfte es aber mindestens nochmals eineinhalb Jahre dauern, bis die Standards verabschiedet sind. «Die Gefahr besteht allerdings, dass jeder eine andere Lösung wählt und es dann zu einem Chaos kommt.» Corvaglia hat kürzlich ein Patent für eine neue Deckel-Lösung registrieren lassen.

Corvaglia-CEO Michael Krueger hat wegen der EU derzeit alle Hände voll zu tun.

Corvaglia-CEO Michael Krueger hat wegen der EU derzeit alle Hände voll zu tun.

Reto Martin

Doch könnten sich Schweizer Getränkeproduzenten wie Henniez (Nestlé), Valser (Coca-Cola), Rivella oder Migros und und Coop nicht einfach der EU-Direktive entziehen und weiterhin gewöhnliche Deckel verwenden? Laut Krueger ist das praktisch unmöglich, da die heimischen Firmen die herkömmlichen Deckel in der nötigen Menge gar nicht mehr erhalten dürften, da die Hersteller diese Produktion aufgeben dürften. Auch in mehreren US-Staaten wie New York oder Kalifornien wird derzeit eine Deckel-Fixierungspflicht diskutiert.

Auftragsstudie spricht von Milliardenkosten

Eine Studie des Beratungsunternehmens PWC, die von Getränkefirmen wie Coca-Cola in Auftrag gegeben wurde, hat die ökonomischen und ökologischen Folgen der bevorstehenden Deckel-Gesetze analysiert. Demnach würden fixierte Deckel je nach technologischer Lösung jährlich zwischen 50‘000 und 200‘000 Tonnen an zusätzlichem Plastik verursachen. Dies würde laut PWC die Fortschritte der Industrie zunichtemachen, die in den vergangenen fünf Jahren ihre Flaschen leichter gemacht hat. Ausserdem ist in der EU pro Jahr mit 381 Millionen Kilo an zusätzlichem CO2-Ausstoss zu rechnen. Die Kosten für die Getränke- und Deckel-Hersteller dürften demnach um 2,7 bis 8,7 Milliarden Euro ansteigen.