Der neue Minergie-A-Standard verlangt keine luftdichte Gebäudehülle. Der Passivhaus-Pionier Pierrre Honegger wittert Verrat. Schlecht isolierte Häuser würden mit Solaranlagen bestückt, um die Dämmverluste zu kompensieren.
Heute öffnet in Luzern die erste Minergie-Expo ihre Tore. Doch schon vor Ausstellungsbeginn hängt der Haussegen schief. Grund ist die Lancierung des neuen Minergie-A-Standards, der das Nullenergiehaus in der Schweiz salonfähig machen will. Solarzellen, Erdwärme oder Biomasse sollen mindestens die nötige Energie liefern, um den Minergie-A-Bau mit Warmwasser, Heizklima und einer kontrollierten Raumlüftung zu versorgen.
Auch verlangt das neue Label, dass im zertifizierten Nullenergiehaus möglichst energieeffiziente Haushalts- und Bürogeräte stehen und dass bei den verwendeten Baumaterialien die graue Energie minimiert wird. Also jene Energie, die zur Herstellung der Baustoffe aufgewendet wird.
Verpackungsarchitektur passé
Für die Gebäudehülle macht Minergie A im Gegensatz zu Minergie P (siehe Tabelle) allerdings keine besonderen Auflagen. Diese orientieren sich lediglich am «einfachen» Minergie-Standard, dessen Dämmwerte praktisch dem Niveau der heute geltenden Bauvorschriften entsprechen.
«Ich bin erstaunt und erfreut», sagt Hansjürg Leibundgut, Professor für Gebäudetechnik an der ETH Zürich. Leibundgut war bislang der prominenteste Minergie-Kritiker. Insbesondere den verschärften Passivhaus-Standard mit seiner dicken, luftdichten Dämmung bezeichnete er als längst überholte «Verpackungsarchitektur», welche die Planer in «Isolationshaft» nehme.
Für den streitbaren Professor steht nicht die Reduktion des Wärmebedarfs im Zentrum («Die Sonne liefert genügend Energie»). Vielmehr will er die CO2-Emissionen minimieren. Leibundgut sieht deshalb im neuen Label die Möglichkeit, über erneuerbare Energien auf dem Hausdach die Klimabilanz zu verbessern.
Und dies nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei bestehenden Liegenschaften: Statt alte Gemäuer «einfach zuzudämmen», eröffne Minergie A «gestalterischen Spielraum», das Ziel der «Zero Emission» zu verfolgen. Ein Ansatz wohlgemerkt, den der Minergie-Geschäftsführer Franz Beyeler unlängst in einem Interview mit dem «Haus Magazin» als technisch nicht ausgereift und in der Praxis oft nicht umsetzbar taxierte
Leibundgut bleibe den Tatbeweis seines Konzepts schuldig: «Nehmen Sie die Berner Altstadt, die Häuser sind alle denkmalgeschützt. Wie wollen Sie darauf Sonnenkollektoren montieren? Das ist schlicht verboten.»
Während Minergie-Kritiker Leibundgut die vollzogene Kehrtwende bei der Gebäudehülle also begrüsst, wittert Pierre Honegger Verrat an der Sache: «Der neue Minergie-A-Standards ist die totale Verwässerung», sagt der Architekt und Präsident der IG Passivhaus.
Da würden schlecht isolierte Häuser mit Solaranlagen bestückt, um die Dämmverluste zu kompensieren, und erhielten dafür das begehrte Minergie-Label. «Unsere Einwände im Rahmen der Vernehmlassung wurden überhaupt nicht berücksichtigt», bemängelt Honegger und sieht im neuen Standard denn auch einen «Kniefall vor der ETH».
Faktisches Monopol
Der Präsident der IG Passivhaus überlegt sich deshalb, ob er auch künftig seine Häuser nach dem Minergie P zertifizieren soll oder ob er auf den internationalen PHPP-Standard des deutschen Passivhaus-Vordenkers Wolfgang Feist ausweichen soll.
Dies dürfte allerdings nicht so einfach sein, hat der Minergie-Verein doch das faktische Zertifizierungsmonopol in der Schweiz. So knüpfen verschiedene Kantone ihre Förderbeiträge für nachhaltige Bauten ans Label. Wer beispielsweise im Kanton Thurgau ein Einfamilienhaus nach Minergie-P-Standard baut, erhält 20 000 Franken. Und verschiedene (Kantonal-)Banken bieten zu Vorzugskonditionen so genannte Minergie-Hypotheken an.