Der Rohölpreis sinkt ins Bodenlose – Ob diese Entwicklung Fluch oder Segen für die Weltwirtschaft ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Knapp 37 Dollar pro Fass kostet Rohöl der Sorte Brent derzeit noch. Im Juni war das schwarze Gold fast doppelt so viel wert und ein Jahr davor stand der Preis bei stolzen 110 Dollar.
So tief ist er gefallen, der Stoff, dessen Fund einst Männer und ganze Länder über Nacht reich machte: die Rockefellers, Gettys und Ölscheiche dieser Welt, die Emirate und Königreiche. Und noch immer werweissen Experten, ob das tief genug ist, um die Weltwirtschaft anzukurbeln oder in eine Krise zu stürzen. Es gab eine Zeit, da war das keine Frage: In den 1970er-Jahren hatte der jähe Anstieg des Ölpreises verheerende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Düstere Prophezeiung
Eine düstere Zukunft prophezeit dem eigenen Exportschlager die Opec, die Organisation Erdöl exportierender Länder, im neusten Marktausblick: Rohöl werde auch in den nächsten 25 Jahren nicht teurer, wenn man die Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus (Inflation) berücksichtigt. Auch die US-Grossbank J.P. Morgan erwartet, dass sich am Überangebot von Rohöl so bald nichts ändert, weil sich die Opec-Länder mit ihrem globalen Marktanteil von 38 Prozent auf keine Verringerung der Förderquoten einigen konnten. Zudem werde Iran im Zuge des Atom-Abkommens mit dem Westen 2016 wieder mehr Öl auf den Markt bringen.
Gut oder schlecht? Die Antwort hängt davon ab, was der Grund des Preisverfalls ist. Und wie immer in der Ökonomie gibt es in dieser Preisfrage zwei Möglichkeiten: Entweder ist das Angebot zu hoch oder die Nachfrage zu klein. Ersteres gilt als förderlich für das Wachstum. Eine Nachfrageschwäche dagegen bedeutet, dass die Wirtschaft schlecht läuft.
Doch schon diese zwei Fälle sind genau betrachtet weniger eindeutig in den Konsequenzen: Auch ein angebotsseitig verursachter Preisrückgang kann zu Problemen führen, wenn er abrupt kommt und eine kritische Masse an Branchen und Ländern auf dem falschen Fuss erwischt. Oder wenn der Preis derart schwankt, dass den Unternehmen die Planbarkeit fehlt. Beides sind Kennzeichen der jüngsten Entwicklung.
Umgekehrt ist ein durch schwache Konjunktur und Nachfrage bedingter Preiszerfall nicht nur schlecht, sondern der Nährboden für eine Erholung: Die Produktion bei Unternehmen, die Öl als Eingangsprodukt oder Energielieferant nutzen, wird billiger. Die Kaufkraft der Konsumenten steigt zudem, sie müssen weniger für Benzin und Heizung ausgeben und haben mehr übrig für andere Produkte.
Risiken und Nebenwirkungen
Trotz aller Bedenken für gewisse Branchen und Länder, die direkt am Tropf des Rohöls hängen, tendieren die meisten Ökonomen nach wie vor dazu, einen Preisrückgang unter dem Strich als positiv zu bewerten. Für die Spezialisten des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist billiges Öl eine Stütze der globalen Konjunktur.
Die Halbierung des Ölpreises im vergangenen Jahr habe der Welt einen Wachstumsschub zwischen 0,16 und 0,37 Prozent gebracht. Die vermehrten Ausgaben der Importländer überstiegen den Rückgang der Ausgaben der Öl-Exporteure. Ganz besonders sollte die Eurozone profitieren, denn sie ist ein besonders grosser Importeur von Rohöl.
Mit der Fracking-Technologie wird in Sand- oder Schiefersedimenten gebundenes Öl erschlossen. Zahlreiche US-Unternehmen hatten just dann in diese Förderung investiert, als der Ölpreis weit höhere Erlöse in der Zukunft erwarten liess als jetzt. Befürchtet wird nun, dass sie die Schulden, mit denen sie die Investitionen finanzierten, nicht zurückzahlen können und ein ganzer Sektor in Schieflage gerät. Die Opec hat das Rohöl unter anderem deshalb billig gehalten, um die neue Konkurrenz vom Markt zu drängen. Der Schuss könnte aber nach hinten losgehen: Die Technologie schreitet fort, die Kosten sinken weiter und der Sektor wird durch Konsolidierungen auch effizienter.
Saudi-Arabien, der Treiber hinter der Opec-Politik des billigen Öls, muss zudem mittlerweile seinen überbordenden Staatshaushalt selbst durch Verschuldung am Kapitalmarkt (also über Anleihen) bestreiten, denn der Ölpreissturz reisst tiefe Löcher in die Staatskasse. Das Land konnte dank dem Ölreichtum bisher ganze Heerscharen junger Arbeitsloser ruhig halten. Das Beispiel führt vor Augen, dass die Destabilisierung geopolitischer Problemzonen droht, sollte der Rohölpreis tief bleiben. Ähnliche Probleme haben aber auch Qatar und vor allem Venezuela. Die britische Bank Barclays warnt inzwischen davor, dass der Staat schon im Februar seine Auslandsschulden nicht mehr begleichen kann. Dem Staat bleibe nur, seine Goldreserven oder andere Werte zu verkaufen.
Billig und alternativlos
Und auch Russland leidet: Der Rubel ist gegenüber dem Dollar auf den niedrigsten Stand seit einem Jahr gefallen. Für den russischen Staat ist der Verkauf von Öl und Gas die wichtigste Einnahmequelle. Die russische Zentralbank erwartet eine Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um mehr als zwei Prozent im nächsten Jahr, sollte der Ölpreis auf dem derzeitigen Niveau verharren. Für 2015 rechnen die Währungshüter mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 3,7 Prozent.
Mit dem billigen Öl werden alternative Energiequellen wieder unrentabler, Investitionen lohnen sich weniger. Ein Lichtblick: Auch in die Ölförderung zu investieren, wird unattraktiver. Die Opec schätzt, dass bis 2040 weltweit zehn Billionen Dollar in die Produktion investiert werden müssen, damit der Ölbedarf gedeckt wird. Wenn sich das wegen der zu tiefen Preise nicht rechnet, wird das Angebot im Vergleich zur Nachfrage sinken. Und das hiesse: Die Preise würden wieder steigen.