Interview
So sehen uns die Nachbarn: «Die Schweiz macht zur Eindämmung des Coronavirus viel zu wenig»

Der deutsche Gesundheitspolitiker Peter Liese hält die Präventionsmassnahmen des Bundesrates für völlig unzureichend. Deutschland werde bald darüber nachdenken müssen, wie sich ein Virusimport aus der Schweiz verhindern lässt.

Drucken
Peter Liese.

Peter Liese.

Pressedienst

Die Nachbarländer der Schweiz ergreifen scharfe Massnahmen und haben einen Teil-Lockdown beschlossen. Deutschland etwa schliesst bis mindestens Ende November Restaurants, Bars, Clubs, Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Ähnlich macht es Österreich. Zudem werden dort private Treffen eingeschränkt. Es dürfen sich nur noch Personen aus zwei Haushalten treffen. Darüber hinaus wurde eine Ausgangssperre von 20 bis 6 Uhr verhängt. In Frankreich dürfen die Menschen nur noch für die Arbeit, Einkäufe und Arztbesuche auf die Strasse. Bars, Restaurants und viele Geschäfte sind geschlossen.

Die Schweiz ist so gesehen eine Insel. Der norddeutsche CDU-Politiker Peter Liese kritisiert dies im Interview scharf. Liese ist ein Veteran im Europaparlament in Strassburg. Seit 26 Jahren vertritt der Arzt dort in der Fraktion der Europäischen Volkspartei vornehmlich gesundheitspolitische Anliegen.

Sie warnen schon länger, dass die Pandemie in vielen Ländern Europas ausser Kontrolle gerät. Mit welchem Ziel?

Peter Liese : Ich sehe, wie in einigen EU-Ländern wie etwa Belgien und Tschechien das medizinische System schon überlastet ist. Deswegen glaube ich, dass wir in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern jetzt beherzt handeln müssen, um eine solche Katastrophe zu vermeiden.

Wo ist die Lage in Europa derzeit am schlimmsten?

Absolut dramatisch ist die Situation in Belgien. Gemäss der Schilderung eines mir persönlich bekannten Mediziners, der die Lage in Belgien sehr gut kennt, müssen die dortigen Ärzte bei der Durchführung künstlicher Beatmungstherapien schon jetzt nicht mehr nur entscheiden, ob sie den 60-jährigen oder den 70-jährigen Patienten den Vorzug geben wollen. Jetzt geht es dort bereits um die Frage: zuerst die 30-jährigen oder zuerst die 50-jährigen?

Die Schweiz geht viel weniger weit. Hier bleibt die Gastronomie mit leichten Einschränkungen geöffnet.

Nach meiner festen Überzeugung macht die Schweiz viel zu wenig. Es reicht absolut nicht aus, die Sperrstunde nur etwas vorzuverlegen. Die Schweizer Regierung muss deutlich stärker eingreifen. In der Schweiz ist die Zahl der Infektionen pro 100'000 Einwohner etwa fünfmal höher als in Deutschland.

Müsste die Schweiz also das Gleiche machen wie Deutschland?

Nein, mehr. Die Infektionszahlen in der Schweiz sind viel zu hoch, als dass das Land nur das machen könnte, was Deutschland gerade macht.

Die deutschen Grenzregionen leben gut von Schweizer Einkaufstouristen. Zudem gibt es viele Grenzgänger. Die Wirtschaftslobby hat für diese Gruppen Sonderregelungen durchgesetzt. Was halten Sie davon?

Gewisse Ausnahmen sind tolerierbar. Das Infektionsrisiko in Ladengeschäften ist erwiesenermassen sehr klein, wenn die Maskenpflicht eingehalten wird. Auch bei den Berufspendlern habe ich Verständnis für Ausnahmeregelungen.

Könnten diese Ausnahmen die Bemühungen Deutschlands um eine Senkung der Fallzahlen unterlaufen?

Wenn es bei Besuchen in Geschäften mit Maske und bei beruflichen Kontakten mit entsprechenden Vorsichtsmassnahmen bleibt, dann eher nicht. Aber wenn Deutschland es schafft, die Situation so gut in den Griff zu kriegen, wie ich das hoffe, dann werden wir im Dezember darüber nachdenken müssen, wie ein Virusimport aus den Nachbarländern unterbunden werden kann. So müssen etwa touristische Reisen eingeschränkt werden. Ich denke dabei aber nicht nur an die Schweiz, sondern vor allem auch an Belgien oder Tschechien. Wir sehen zum Beispiel in Sachsen einen dramatischen Anstieg der Infektionszahlen. Bevor die Zahlen in Tschechien explodiert sind, war es in Sachsen immer ruhig.

Wie sieht die Lage in Baden-Württemberg aus?

Von dort habe ich bislang keine ähnlich alarmierenden Signale wie aus Sachsen. Ich nehme an, dies hat damit zu tun, dass die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland ohnehin weniger offen ist als zwischen Deutschland und seinen EU-Nachbarstaaten und dass sich möglicherweise die Menschen dort besser an die allgemeinen Regeln halten.

Deutschland befindet sich seit Anfang Woche in einem Lockdown, obwohl die Lage in Ihrem Land noch viel besser ist.

Es ist kein echter Lockdown, sondern ein Lockdown light. Im Gegensatz zum Frühjahr bleiben Geschäfte, Kindergärten und Schulen geöffnet. Dennoch ist das, was die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten beschlossen haben, richtig. Wir müssen jetzt sehr stark auf die Bremse treten, um eine schlimme Entwicklung zu vermeiden.

Was gilt jetzt in Deutschland genau?

Alle Kontakte, die nicht bedingt durch Schule oder Arbeit zustande kommen, sind seit Montag dramatisch eingeschränkt. Geschlossen ist die komplette Gastronomie sowie alle Kultureinrichtungen. Das Ausüben von Sportarten, die man mit mehreren Leuten betreibt, ist nicht mehr erlaubt. Zudem ist es verboten, sich öffentlich mit Leuten aus mehr als zwei Haushalten zu treffen.

Deutschland will Weihnachten retten. Geht das überhaupt?

Es muss gehen. Wir müssen jetzt handeln, damit man sich an Weihnachten mit Eltern und Geschwistern treffen kann, ohne ein allzu grosses Infektionsrisiko einzugehen. Hätten wir die Präventionsmassnahmen jetzt nicht deutlich verschärft, gäbe es an Weihnachten keine grösseren Familientreffen. So war es schon an Ostern. Aber ich finde es wünschenswert und unterstütze die Massnahmen in Deutschland auch deshalb, weil sich, wenn wir das Virus in den Griff bekommen, auch im grösseren Rahmen zum Beispiel zehn bis 15 Personen treffen können, ohne ein zu grosses Risiko einzugehen.