Nestlé eröffnete gestern das dritte Produktionszentrum für Kaffeekapseln. Wie der Alpenstaat heimlich zum Zentrum des Kaffeehandels wurde. Eine Milliardenbranche und ihre Geschichte in der Schweiz.
Kaffee testen kann bisweilen gefährlich sein. Beim Rundgang durch das neue Nespresso-Werk in Romont FR entsteht zumindest der Eindruck. Orangefarbene Sicherheitsvesten tragen hier nicht nur die Arbeiter an den Kapselrobotern. Auch diejenigen, für die Riechen, Schlürfen und Ausspucken zum Arbeitsalltag gehört, leuchten.
Bei der Tour durch die dritte Kaffeekapsel-Fabrik des Nestlé-Konzerns fällt noch ein Zweites auf: Die riesige Halle, die wegen besserer Transportmöglichkeiten direkt neben die Bahnstrecke gesetzt wurde, ist nur sehr dürftig gefüllt. Ziemlich einsam steht die Produktionslinie für die neuen Vertuoline-Kapseln auf der einen Seite, zwei weitere automatisierte Kapselstrassen werkeln auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Dazwischen ist viel Platz. Lange wird es aber wohl nicht dauern, bis auch das dritte Werk ausgelastet ist.
Zu gross ist die Nachfrage nach den Kapseln. Jetzt sind auch noch die Amerikaner und Kanadier auf den Geschmack gekommen. Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Nestlé-Chef Paul Bulcke und Nespresso-CEO Jean-Marc Duvoisin haben die Fabrik gestern gemeinsam eingeweiht.
Zu Beginn ein Flop
Der Schweizer Nahrungsmittelkonzern hat mit Nespresso in den letzten Jahren eine der erfolgreichsten Neulancierungen in der Nahrungsmittelindustrie hingelegt. Ein Erfolg, der zunächst nicht absehbar war, als das Nespresso-System 1970 vom Ingenieur Eric Favre in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Nahrungsmittel-Riesen erfunden wurde. Zeitweise überlegten sich die Nestlé-Chefs gar die Einstellung der Produktion.
Jahrelang tobte ein juristisches Hickhack um den Einstieg in den lukrativen Markt mit Kaffeekapseln. Hersteller von Nespresso-kompatiblen Kapseln wurden so blockiert. Seitdem ein grosser Teil der Patente abgelaufen ist, hat sich die Lage an der juristischen Front beruhigt. Auch die Preise sinken. Während Nestlé mit neuen Kaffee-Kreationen die Kunden bei der Stange zu halten versucht, unterbietet sich die Konkurrenz mit sinkenden Preisen. Inzwischen gibt es auch Hersteller von wiederauffüllbaren Kapseln. Und auch die KonkurrenzSysteme von anderen Firmen erleben einen Aufschwung. Der Markt für portionierten Kaffee, mit einem Volumen von weltweit mehr als 5 Milliarden Dollar, wächst weiterhin sehr stark.
In den USA und in Kanada ist Nestlé einen Schritt weiter. Dort wurde letztes Jahr ein neues System eingeführt: Das neue Brühsystem macht mit der doppelten Menge Pulver grössere Kaffees. Der Vorteil für Nestlé: Der Patentschutz beginnt von neuem. Ausserdem werden mittels Strichcode Fremdkapseln blockiert. Eine Einführung des Systems in Europa wurde bisher nicht kommuniziert, gilt jedoch als Option. In der neuen Anlage in Romont FR, die gestern eröffnet wurde, werden nicht nur die gewohnten Nespresso-Kapseln, sondern auch 14 «Grands Crus» der Vertuoline produziert. Die Maschine verfüge über eine «revolutionäre» Extraktionstechnologie und wurde im März 2014 erfolgreich in den Vereinigten Staaten und Kanada eingeführt. (ASC)
Zum Erfolg wurden die Aluminiumkapseln Anfang der 2010er- Jahre, als man mit dem Schauspieler George Clooney einen idealen Werbe-Botschafter gefunden hatte. «Es handelt sich heute nicht nur um die Eröffnung einer weiteren Fabrik; wir unterstreichen unser Vertrauen in die Marke Nespresso», sagte gestern Nestlé-Konzernchef Paul Bulcke.
Nestlé gilt nicht nur als der grösste, sondern vor allem profitabelste Kaffeehersteller der Welt. Die operative Ergebnismarge wurde im letzten Halbjahr von den hohen Kaffeepreisen für Nespresso und Nestlé Professional beeinflusst. Seit diesem Jahr kämpft Nestlé jedoch um die Vormachtstellung im weltweiten Kaffeegeschäft. 2014 gaben Douwe Egberts und Mondelēz bekannt, dass sie ihre Kaffee-Marken zu einem reinen Kaffeeunternehmen zusammenlegen wollen. Diesen Mai erteilte die Europäische Kommission ihre Zustimmung zur Fusion.
In der Schweiz folgen hinter den Fabriken von Nestlé die Kaffeeröstereien Delica der Migros und die ehemaligen Schweizer Kaffeeröstereien, die der japanischen UCG-Gruppe gehören.
Die Schweiz wird – vor allem wegen Nestlé, das neben Nespresso auch den in vielen Ländern verkauften Pulverkaffee Nescafé verkauft – als Zentrum des weltweiten Kaffee-Geschäfts wahrgenommen. Die Geschichte begann schon viel früher. Die Gebrüder Volkart aus Winterthur gründeten 1857 ein Unternehmen, das im Handel mit Baumwolle, Kaffee und Gewürzen aus Indien und Sri Lanka tätig war. Das Unternehmen wuchs unter dem Namen Volcafe bis 2003 zum zweitgrössten Kaffeehändler der Welt an.
Händler und Fabrikanten
Heute werden über verschiedene Rohstoff-Händler, die sich insbesondere auch im Raum Genf angesiedelt haben, zwischen 70 und 80 Prozent des weltweit gehandelten Rohkaffees, also mehr als 130 Millionen Sack, über die Schweiz abgewickelt. Neben den Rohstoffhändlern sitzt auch eine Handelsabteilung des US-Kaffeehausbetreibers Starbucks in der Schweiz.
Effektiv importiert die Schweiz laut einer Untersuchung von Regula Heiniger an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil ZH jedoch nur knapp 1,8 Millionen Sack, wovon etwas mehr als 600 000 – unter anderem in Form von gemahlenem Kaffee in Aluminiumkapseln – wieder exportiert werden. Damit ist Kaffee zum wichtigsten Exportgut der Schweiz geworden, noch vor Schokolade oder Käse. Geht es nach Nestlé-Chef Bulcke, kann das auch so bleiben: «Überall auf der Welt sind Nespresso-Kapseln ein Symbol für die Schweiz und tragen damit zum globalen Erscheinungsbild des Landes bei.»
In der Schweiz wird, das ist weniger bekannt, auch ein grosser Teil der Kaffeemaschinen hergestellt. Insbesondere Vollautomaten. Wird die ganze Kette vom Handel bis zum Absatz an den Endkonsumenten berücksichtigt, so sind es rund 4,67 Milliarden Franken, welche die Kaffeebranche in der Schweiz erwirtschaftet. Eine eindrückliche Zahl, die immerhin einem knappen Prozent des gesamten Bruttoinlandproduktes der Schweiz entspricht.