Das Seriengeschäft haben Video-on-Demand-Dienste wie Netflix oder HBO bereits revolutioniert – vor allem dank bestechender Eigenproduktionen. Nun sagt Netflix auch der Kinowelt den Kampf an.
Gregory Remez
Es ist nur ein Warnschuss – doch er zeigt bereits Wirkung. Der Streamingdienst Netflix hat mit «Bright» seine erste Hollywood-Produktion mit grossem Budget und grossem Star realisiert. Er legt sich damit erstmals direkt mit den Kinobetreibern und Studios an. Denn im Gegensatz zu anderen Blockbustern ist der Film von David Ayer («End of Watch») mit Will Smith («Men in Black») in der Hauptrolle nicht etwa in den Kinos, sondern seit einer Woche nur auf Netflix zu sehen. Alleine in den USA wurde er in den ersten drei Tagen über 11 Millionen Mal angeschaut.
Die Firma, die sich einst mit dem Versand von Leih-DVDs einen Namen machte, drängt sich ellbögelnd in die Oberliga. Das 90 Millionen Dollar schwere Projekt «Bright» ist so etwas wie das Versuchskaninchen des Unternehmens. Das Publikum soll endgültig darauf getrimmt werden, dass es für den neuesten Blockbuster nicht extra ins nächste Filmtheater rennen muss, sondern ihn sich jederzeit bequem in die warme Stube streamen kann.
Die Kinoketten reagieren angesichts dieser Angriffslust der Konkurrenz nervös. Viele haben bereits angekündigt, keine Netflix-Streifen ausstrahlen zu wollen. Die Marktführer AMC Entertainment Holdings und Regal Entertainment Group sehen ihre Stellung bedroht und fordern, dass auch kleine Unternehmen ihre Filme – wie die Hollywood-Studios – zunächst in Kinos veröffentlichen, bevor sie online erscheinen. Ihre Sorge kommt nicht von ungefähr: Die Sommer-Kino-Einnahmen in den USA sanken heuer zum ersten Mal seit 2006 unter die 4-Milliarden-Dollar-Marke.
Das altgediente lineare Fernsehen ist längst begraben, nun droht also auch das klassische Kino unter die Netflix-Lawine zu geraten. Im kommenden Jahr will das im kalifornischen Los Gatos ansässige Unternehmen über 80 neue Streifen rausbringen – 30 mehr als in diesem Jahr. Da können selbst die Grossen der Branche nicht mehr mithalten: Disney mitsamt Pixar, Marvel und Lucasfilm brachte letztes Jahr nur 13 Filme auf den Markt, Sony kam auf 38 Filme.
In nur fünf Jahren hat sich Netflix von einer Videothek für Wiederholungen zu einem der weltweit grössten Produzenten von Unterhaltung gemausert. Und das Erfolgskonzept soll künftig noch konsequenter umgesetzt werden. Das Zauberwort lautet auch weiterhin: «Originals» – also Eigenproduktionen. Im nächsten Jahr will der Streamingdienst mehr als einen Viertel der insgesamt budgetierten 8 Milliarden Dollar für selbst produzierte Inhalte ausgeben. Das erklärte Ziel heisst: Mehr als die Hälfte des Netflix-Angebots soll aus Eigenproduktionen bestehen.
Dass diese Rechnung aufgehen kann, hat Netflix bei der diesjährigen Emmy-Gala bewiesen. 20 Auszeichnungen räumte der Dienst mit seinen Produktionen ab, mitunter für die Horrorserie «Stranger Things», das historische Drama «The Crown», den Politthriller «House of Cards» sowie die Dramedy «Master of None». Geschlagen wurde Netflix lediglich vom US-Bezahlsender HBO, der mit HBO Now ebenfalls über einen Video-on-Demand-Dienst verfügt – allerdings nur innerhalb der USA. Der Sender, der mit Serien wie «Die Sopranos», «The Wire» oder «Game of Thrones» immer wieder neue Massstäbe in Sachen TV-Unterhaltung gesetzt hat, erhielt insgesamt 29 Preise.
Doch nicht nur aus der Perspektive der Kritiker geht die Netflix-Strategie auf. Auch in kommerzieller Hinsicht hat sich Online-Streaming zu einer echten Goldgrube entwickelt. Laut den Geschäftszahlen konnte Netflix seinen Umsatz im dritten Quartal des laufenden Jahres auf knapp 3 Milliarden Dollar steigern; im selben Quartal 2016 waren es noch 2,3 Milliarden Dollar gewesen.
Der Nettogewinn hat sich im Vergleich zum Vorjahr gar mehr als verdoppelt. Bei den bezahlten Mitgliedschaften ist die Zahl der Nutzer weltweit auf 104 Millionen angewachsen, innerhalb eines Jahres kamen also über 20 Millionen Neukunden dazu. Das Wachstum ist auch nötig, um das Fremdkapital, auf das Netflix wegen der teuren Eigenproduktionen derzeit noch angewiesen ist, schrittweise zu reduzieren.
Die Chancen, dass dies bald gelingt, stehen zurzeit gut: Angesichts des rapide zunehmenden Gewinns, der stets wachsenden Nutzerzahlen und der grundsätzlichen Bereitschaft, den Machern kreative Freiheit zu gewähren, dürften sich künftig noch mehr Produzenten – selbst diejenigen auf höchster Ebene – dazu durchringen, mit dem Streamingdienst zusammenzuarbeiten. Den jüngsten Beweis dafür liefert Erfolgsregisseur Martin Scorsese. Dessen Kriminalfilm «The Irishman» mit Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci wird 2019 exklusiv bei Netflix gezeigt.
Baran bo Odar, Macher der vielfach gelobten ersten deutschen Netflix-Produktion, der Mystery-Serie «Dark», sagte kürzlich in einem Interview zur aktuellen Machtverschiebung in der Filmbranche: «Ich liebe Kino (…), aber es gibt da ein Manko: Durchschnittlich sind Sachen zwei Wochen im Kino. Welcher Film läuft denn wie früher sechs Monate im Kino? Ich weiss noch, ‹Pulp Fiction› lief ewig damals. Der Vorteil von Netflix ist zu wissen: Da ist was online. Das ist für einen Filmemacher grossartig. Das ist da jetzt für immer.»
Zu den Highlights bei Netflix dürften 2018 «Disenchantment» vom «Simpsons»-Erfinder Matt Groening, «The Ballad of Buster Scruggs» von den Coen-Brüdern, «Safe» mit «Dexter»-Darsteller Michael C. Hall in der Hauptrolle sowie «Maniac» vom Regisseur der ersten «True Detective»-Staffel Cary Fukunaga gehören. Zu den Neulingen kommen ausserdem wahrscheinlich neue Staffeln beliebter Serien wie «House of Cards» (Staffel 6), «Orange Is The New Black» (Staffel 6), «Ozark» (Staffel 2), «Daredevil» (Staffel 3), «Better Call Saul» (Staffel 3), «Narcos» (Staffel 4), «13 Reasons Why» (Staffel 2) und «Arrested Development» (Staffel 5). Fans von «Stranger Things» werden sich wegen der laufenden Produktion wohl oder übel bis 2019 gedulden müssen.
(gr)