Die Unfallversicherung nahm vor 100 Jahren als erstes grosses Sozialwerk der Schweiz ihren Betrieb auf. Das prägnante Suva-Gebäude verdeutlichte, dass auch der konservative Kanton Luzern im modernen Bundesstaat angekommen war.
Rainer Rickenbach
Der Luzerner Stadtrat bemühte reichlich Pathos, als er sich 1914 zu den Plänen für das neue Suva-Gebäude äusserte. Eine Zierde der Stadt stelle das repräsentative Gebäude auf dem Felssporn der Fluhmatt dar, und als «Denkmal des eidgenossischen Brudersinns» charakterisierten die Stadtväter das Siegerprojekt des Architektenduos Gebrüder Pfister aus Zürich. Das Projekt war aus einer «Plankonkurrenz» mit 29 Mitbewerbern als Sieger hervorgegangen.
Der Kuppelbau mutierte unverzüglich zum Postkarten-Sujet. Noch heute knipsen viele asiatische Touristen am Löwenplatz wie wild drauflos, wenn sie das mächtige Gebäude entdeckt haben. Ende 1915 war es zwar schon bezugsbereit. Doch weil der Erste Weltkrieg in Europa tobte, musste die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, wie sie damals hiess, den Start verschieben. «Vorerst war nicht an eine Eröffnung zu denken. Aus dem monumentalen Gebäude wurde zunächst ein Militärspital», heisst es in der reich illustrierten Unternehmensgeschichte, die vom Luzerner Journalisten und Historiker Stefan Ragaz aufgearbeitet wurde und nun auf der Suva-Webpage aufgeschaltet ist.
Verwundete Soldaten aus den Nachbarländern bevölkerten den Neubau als Erste. Es sollte bis zum 1. April 1918 dauern, ehe die anfänglich 85 Suva-Angestellten ihre Arbeit in der Fluhmatt aufnehmen konnten. Sie feierten ein paar Tage später im Hotel Monopol in bescheidenem Rahmen den Start des wirtschaftlich selbstständigen Versicherungsunternehmens, das dem öffentlichen Recht unterstellt ist. Auf der Einladung waren die Gäste aufgefordert worden, Brot- und Fettkarten mitzubringen – die Kriegskämpfe waren noch im Gang, die Lebensmittel rationiert.
Dass Luzern zuvor den Standort-Zuschlag für die neue Versicherung erhalten hat, war nicht unbedingt selbstverständlich. Der konservative Kanton Luzern führte 70 Jahre zuvor den Widerstand gegen den modernen, liberalen Bundesstaat an und galt darum in der Bundeshauptstadt Bern lange Zeit als unzuverlässiger Kandidat. Bei der Vergabe der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) und des Landesmuseums war Luzern leer ausgegangen, beide Male behielt Zürich den Zuschlag. Die Suva bedeutete für den grössten Innerschweizer Kanton darum die Wende. Er galt nun nicht mehr als Aussenseiter, er war endgültig in der modernen Eidgenossenschaft angekommen. Vor allem in der liberal dominierten Stadt war die Erleichterung darüber gross. Das erklärt die Begeisterung des Stadtrates über das «Denkmal des eidgenössischen Brudersinns». Innerhalb der Stadt war es zuvor zu einem Seilziehen um den Standort gekommen, verschiedene Quartiere hätten die Suva gerne gehabt. Im Schlussgang setzte sich schliesslich die Fluhmatt gegen das Vögeligärtli (Zentralbibliothek) durch.
Zu Beginn der Projektplanung herrschte die Meinung vor, die Unfallversicherung in einem schlichten Gebäude unterzubringen. «Erst als die Planung reifte, erkannte man die Einmaligkeit der Gelegenheit», schreibt Ragaz im Text zur Geschichte der Suva. Das fand in den verschiedenen Projektvorschlägen der 30 am Wettbewerb beteiligten Architekten seinen Niederschlag, alle beinhalteten stattliche Bauten (siehe Bilder). «Wahrzeichen – der Titel des siegreichen Projektes der Gebrüder Pfister war Programm. Otto und Werner Pfister lehnten die Formensprache an den Stil der monumentalen Bundesbauten in Bern an. Mit einer Kuppel, auf der bis in die Dreissigerjahre noch eine Statue prangte, und einem Verwaltungsratssaal, der sogar das Sitzungszimmer des Bundesrates in Bern überstrahlt», schreibt Ragaz in der Unternehmenschronik. Der Neubau kostete 1,36 Millionen Franken, was heute etwa 11 Millionen Franken gleichkäme. Bereits 1920 waren 600 000 Arbeitnehmer bei der Suva versichert. Sie bearbeitete 140 000 Unfälle. Heute sind es 2 Millionen Versicherte und 460 000 Fälle pro Jahr.