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Wirtschaft
Professor David Dorn erklärt, warum die Schweiz im Kampf gegen Corona wenig erfolgreich ist – und was ihre Kultur damit zu tun hat.
«Wir haben Regeln, die zu uns passen, und sind damit bisher nicht schlecht gefahren.» So beschrieb Bundesrat Alain Berset, wie die Schweiz sich in der Coronakrise schlägt. Doch «nicht schlecht» wurde im Herbst täglich schlechter. Die zweite Welle kam. Bei den Neuansteckungen zählt die Schweiz zu den meistbetroffenen Ländern in Europa. Und der Winter kommt erst.
Sind die Regeln, die zur Schweiz passen, auch wirksame Regeln? Warum ist das sonst so erfolgreiche Land nicht erfolgreicher? David Dorn, Wirtschaftsprofessor an der Universität Zürich, ist als Mitglied der Covid-19-Taskforce derlei Fragen nachgegangen. Wobei es noch viel Forschung brauche. «Es ist zu hoffen, dass die Lehren gezogen werden.»
Tracen, testen, wenn nötig isolieren. Diese Strategie habe die Taskforce immer wieder empfohlen, so Dorn. Doch habe die Schweiz seiner Einschätzung nach wohl zu wenig getan nach der ersten Welle im Frühjahr. «Man hätte mehr investieren und ein effizienteres System aufziehen können.»
Etwa im Contact-Tracing. Dieses kantonal aufzustellen, 26-mal von Neuem, könnte ein Fehler gewesen sein, sagt Dorn. Kleine Kantone waren vielleicht zurückhaltend mit dem Aufbau. Schlicht, weil sie weniger Einwohner haben. Doch, so Dorn: «Das Tracing in kleinen Kantonen könnte von Super-Spreader-Events überlastet worden sein.» Solche Events haben Folgen. Viele Ansteckungen kommen in kurzer Zeit an einem Ort zusammen. Dort telefonieren sich die Contact-Tracer die Ohren wund, anderswo herrscht Langeweile. Auf diese Art von Virenverbreitung hätte, so die These von Dorn, ein zentralisiertes System auf Bundesebene vielleicht besser reagieren können.
Der Bund hätte grosse Ressourcen rasch verschieben können. Man hätte gründlicher gesucht, Ansteckungsketten rascher unterbunden. Dafür ist es nun wohl zu spät, da die zweite Welle da ist. Mit dem kantonalen Tracing wurde der Föderalismus wohl zu weit getrieben.
Vermutlich haben die Kantone es mit einer Schweizer Tugend übertrieben: dem Sparen. Als sie das Tracing aufbauten, waren die Fallzahlen niedrig. Dorn sagt, in solchen Situationen stelle sich stets die Frage, wie viel Kapazitäten man haben wolle, wenn diese zunächst kaum gebraucht werden. Dorn sagt:
Das schienen damals wohl eher unnötige Ausgaben zu sein.
Die Schweiz hat zu wenig getan. Dabei wurde sie im Frühling gewarnt in einer Studie, verfasst von Dorn und anderen Ökonomen der Uni Zürich. Die wichtigste Massnahme aus ökonomischer Sicht sei eine grosse Investition in Testen und Tracing. Die Kosten eines Lockdowns seien gewaltig: Eine einzige Woche koste rund 4 Milliarden Franken.
Vielleicht seien die kantonalen Planer einer Schwäche unterlegen, die allzu menschlich ist. «Wenn es einem gut geht, bereitet man sich zu wenig auf schlechte Zeiten vor», so Dorn. Dass mancher Kanton zu wenig investiert hat, sieht man auch in Bundesbern so. Bundesrat Berset sagte kürzlich, leider hätten nicht alle Kantone das Tracing massiv ausgebaut.
Eine schweizerische Eigenheit könnte es dem Virus leichter gemacht haben. So sind Bund und Kantone vergleichsweise vorsichtig mit dem Geld der Steuerzahler. Das hilft in guten Zeiten, um Reserven aufzubauen. Nur muss man es in schlechten Zeiten ausgeben. «Ausgaben für Tracing, Testen und Isolieren muss man unbedingt als lohnende Investition verstehen», sagt Dorn. Damit erspare man sich später hohe Kosten: eine gebremste Wirtschaft, weniger Steuereinnahmen, teure Hilfspakete.
Eine andere schweizerische Eigenart ist: Man misstraut den Obrigkeiten. In der Coronakrise heisst das, wie Berset sagte: «Wir wollen nicht, dass die Polizei hinter jedem Einwohner her ist.» Man setzt auf Eigenverantwortung, schützt die Privatsphäre. Doch zahlt die Schweiz dafür einen Preis? Denn andere Freiheiten sind nun eingeschränkt: Nachtclubs bleiben zu, im Fussball gibt es nur Geisterspiele, Halloween fiel mehr oder weniger aus. In einigen asiatischen Ländern mit sogenannt paternalistischem Staat durfte Halloween hingegen gefeiert werden. In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul zum Beispiel warnte die Polizei zwar in einer Kampagne: «Werde nicht zu einem echten Gespenst!» Doch die Nachtclubs blieben offen, der gewünschte Trubel war da.
In Südkorea stoppen die Tracer nicht vor der Privatsphäre. Sie sammeln fast alles: wann Frau Kim an welchem Ort war, via Daten aus dem Mobilfunk; wo und wann sie ihre Kreditkarte nutzte. Und die Tracer geben die Daten weiter. Einwohner erhalten auf dem Handy ein Signal, in ihrem Quartier würden Ansteckungen zunehmen.
Die Fallzahlen sind in diesen paternalistischen Ländern tiefer. Dorn: «Sie scheinen in der Coronakrise einen grossen Vorteil zu haben.» Das zeige sich beim Testen. Die Bürger werden dazu aufgeboten: Nach einem Super-Spreader-Event in einem Ausgehviertel testet Südkorea gleich 40000 Menschen. In der Schweiz entscheidet jeder selber. Diese Freiwilligkeit dürfte dazu beitragen, dass hierzulande weniger getestet wird.
Wobei man nicht vergessen dürfe, so Dorn: Manche dieser asiatischen Länder hätten zuvor mit Sars wichtige Erfahrungen gesammelt – und würden die aktuelle Pandemie auch darum besser bewältigen. Gäbe es noch eine Pandemie, sei die Schweiz besser vorbereitet. Dorn sagt: «Das Bewusstsein wird da sein, wie schnell man in eine Krise abgleiten kann und wie hoch die Kosten sind.»