Wachablösung bei der Nationalbank in Luzern

Der Luzerner Ökonom Gregor Bäurle wird bei der Schweizerischen Nationalbank neuer Delegierter für Wirtschaftskontakte in der Zentralschweiz. Er haucht den Statistiken des Noteninstituts das reale Leben ein.

Daniel Zulauf
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Gregor Bäurle (40) auf der Reussbrücke in der Stadt Luzern. (Bild: Pius Amrein, 19. September 2018)

Gregor Bäurle (40) auf der Reussbrücke in der Stadt Luzern. (Bild: Pius Amrein, 19. September 2018)

«Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selber gefälscht habe.» Das geflügelte Wort ist natürlich eine Provokation für Leute, die sich ernsthaft mit quantitativen Methoden zur Darstellung empirischer Befunde auseinandersetzen. Ein solcher Mensch ist auch der Luzerner Ökonom Gregor Bäurle, der seit acht Jahren bei der Nationalbank über so komplexe Zusammenhänge wie das Wechselspiel zwischen Wechselkursen, Preisen und Wachstum forscht.

Mit simplen Antworten auf scheinbar einfache Fragen tut sich der Wissenschafter schwer. Warum bewegt sich die Arbeitslosigkeit in der Grossregion Zentralschweiz seit vielen Jahren deutlich unter dem gesamtschweizerischen Durchschnitt? «Vielleicht hat es etwas mit der Struktur der lokalen Wirtschaft zu tun, die bei uns noch durch eine etwas paternalistischere Unternehmensführung geprägt ist als in den städtischeren Agglomerationen des Landes», sagt er nach längerem Überlegen. Die Vermutung steht auf informiertem Fundament. Bald wird er in der Lage sein, die These zu vertiefen.

Vorgänger Walter Näf geht zur OECD

Bäurle übernimmt ab Oktober als «Delegierter für regionale Wirtschaftskontakte» die Verantwortung für die Zentralschweiz bei der Schweizerischen Nationalbank. Auf dem Aussenposten der Nationalbank an der Luzerner Münzgasse sass während 14 Jahren sein Vorgänger Walter Näf. Nun verlässt Näf die Leuchtenstadt in Richtung Paris, um das Schweizer Noteninstitut in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu vertreten.

«Ich traue keiner Statistik…». Das Bonmot kommt auf den ersten Blick so unverdächtig daher wie eine alte Volksweisheit. Tatsächlich hat es der Spruch aber in sich, wie man in einem älteren Monatsheft des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg nachlesen kann. Entgegen der weitverbreiteten Meinung könne der frühere britische Premierminister Winston Churchill kaum der Urheber des berühmten Zitates gewesen sein. Wahrscheinlicher sei, dass der damalige deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels die Worte seines Gegners mit Kalkül verdrehte, um diesen als Lügner erscheinen zu lassen.

Niemand weiss besser als der Urherber einer Statistik, dass deren Deutung im politischen Gefecht schnell zu einer scharfen Waffe werden kann. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Nationalbank in den Grossregionen des Landes ihre eigenen «Botschafter» losschickt. Sie sollen den Vertretern der lokalen Wirtschaft die Politik des Noteninstituts aus erster Hand näherbringen und so in diesem Kreis um Unterstützung und Verständnis für die bisweilen folgenschweren und unangenehmen Entscheidungen werben.

«Ich will mehr über die Geschichten erfahren, die sich hinter den Datenreihen verbergen.»

Die neue Aufgabe im Blick, heisst es für Bäurle nun Abschied zu nehmen, von einer Welt, die ihm in den letzten Jahren vertraut geworden ist. Gemeint sind nicht nur seine Kollegen am Nationalbank-Hauptsitz am Zürcher Bürkliplatz, sondern auch die zahllosen Datenreihen und Modelle, die fortan nicht mehr zu seinem Kerngeschäft zählen. Dabei ist gerade dies eine seiner grossen Stärken: «Connecting Macroeconomic Theory to the Data: Methods and Applications». So lautet der Titel seiner Dissertation, die vor zehn Jahren an der Universität Bern als beste Arbeit ausgezeichnet wurde. Es ist der Stoff, mit dem in der jüngeren Zeit besonders viele Ökonomen den Nobelpreis gewannen. Doch die akademische Karriere war nicht Bäurles Ziel. «Ich will dort tätig sein, wo die Arbeit von uns Ökonomen eine unmittelbare Wirkung erzielt», sagt er. An den Universitäten gelingt dies nur sehr wenigen. «Ich mag den Uni-Betrieb und ich bin in Bern auch gerne weiter als Lehrbeauftragter tätig. Doch zuweilen ist diese Welt doch recht weit entfernt von der Realität, wie wir sie alle im Alltag erleben.»

Freilich liegen auch Welten zwischen den Fragen, die man sich in der grossen volkswirtschaftlichen Abteilung der Nationalbank stellt und den Sorgen und Freuden, wie sie die Bürger im täglichen Leben beschäftigen. Zumindest ein Stück weit kann der Ökonometriker in seiner neuen Funktion als Aussenposten der Notenbank nun in diese Lücke vorstossen. Nebst der Aufgabe, die Geldpolitik zu erklären, soll Bäurle in der Region vor allem auch konjunkturrelevante Informationen sammeln. Sie sollen das Bild ergänzen, wie es sich die Konjunkturexperten in Zürich aufgrund ihrer makroökonomischen Modelle und Statistiken malen.

Geschichten hinter den Datenreihen

Bäurle übernimmt von seinem Vorgänger einen Stamm von über 300 Adressen. Dahinter stehen Firmen unterschiedlicher Grösse (ab zirka 50 Mitarbeitern) aus vielen Branchen. Näf spricht liebevoll von seinen «Kunden». Jahr für Jahr hat er sie abgeklappert – etwa 30 pro Quartal. Einem Landarzt ähnlich, fühlte er der lokalen Wirtschaft so den Puls. Wie entwickeln sich die Verkäufe? Wie steht es um die Preise? Ist der Betrieb ausgelastet und was ist mit dem Personal? Diese Erfahrung sucht auch Bäurle. Der Spross einer Lehrerfamilie weiss, dass es für ein gründliches Verständnis der Wirtschaft neben theoretischem Wissen auch Feldarbeit braucht. «Trendbrüche erkennt man über die Informationen aus den Regionen in der Regel schneller als in den zeitlich verzögerten ökonomischen Daten», weiss er. «Ich will mehr über die Geschichten erfahren, die sich hinter den Datenreihen verbergen.»

Gerade in der Zentralschweiz erzählt die Wirtschaft viele spannende Erfolgsgeschichten. Aber nicht alle sind rosig, weiss Bäurle von seinem Vorgänger. «Einige Firmenchefs sagten mir ins Gesicht: Wenn sich bis Ende Jahr am Frankenkurs nichts ändert, müssen wir den Betrieb schliessen», erzählte Walter Näf im Juni 2015 knapp sechs Monate nach dem letzten Frankenschock unserer Zeitung. Wenn dereinst auch die Nationalbank die viel beschworene «Normalisierung» der Geldpolitik einleitet und die Zinsen zu erhöhen beginnt, könnte es für manche Firmen, die auf günstige Kredite angewiesen sind, wieder enger werden. Er sei vorbereitet auf Gespräche, die auch emotional werden können, versichert Bäurle. «Ich will zuhören, auch das kann man lernen.»