WACHSTUM: Konjunkturplaner in der Sinnkrise

Die aktuelle Krise stellt vieles in Frage, was die Feinsteuerung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten geleistet hat. Auf einmal scheint fast Undenkbares möglich.

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Hungrige Arbeitslose stehen während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren in New York in der Schlange und warten auf eine warme Mahlzeit. (Bild: Keystone)

Hungrige Arbeitslose stehen während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren in New York in der Schlange und warten auf eine warme Mahlzeit. (Bild: Keystone)

Daniel Zulauf

Fast auf den Tag genau vor 70 Jahren machte der Bundesrat die Beherrschung heftiger wirtschaftlicher Abschwünge zur Staatsaufgabe. Es war eine kleine, aber wichtige Ergänzung, welche die Regierung im April 1946 den Wirtschaftsartikeln in der Bundesverfassung hinzufügen wollte und dafür 1947 auch das Plazet des Volkes erhielt. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der Dreissigerjahre zielte die Ausweitung des Grundgesetzes zwar primär darauf ab, schiere Not und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Dennoch begann damit auch in der Schweiz das bis heute andauernde und stetig verfeinerte Experiment staatlich gelenkter Konjunkturpolitik.

Quelle: BFS, Seco, Andrist/Fed, Historische Statistik der Schweiz (Bild: Grafik Janina Noser / Neue LZ)

Quelle: BFS, Seco, Andrist/Fed, Historische Statistik der Schweiz (Bild: Grafik Janina Noser / Neue LZ)

Von Wirtschaftsfreiheit abweichen

Knapp 30 Jahre später erliessen die eidgenössischen Räte einen ganzen «Konjunkturartikel», der inzwischen in der Bundesverfassung unter Artikel 100 zu finden ist. Dieser lässt erkennen, was Konjunkturpolitik heute bedeutet: Der Bund trifft nicht mehr nur Massnahmen zur Verhütung von Wirtschaftskrisen, sondern er sorgt «für eine ausgeglichene konjunkturelle Entwicklung», er interveniert also auch in Phasen wirtschaftlicher Überhitzung. Sofern es seiner Aufgabe der Konjunkturstabilisierung hilft, kann er «nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen».

Seit 1980 ist auch die «Konjunkturbeobachtung» als Staatsaufgabe verankert. Das mit der Umsetzung der Konjunkturpolitik betraute Bundesamt für Konjunkturfragen ist seit 1999 Teil des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Auch die Nationalbank führt seit der Gesetzesänderung im Jahr 2002 nicht mehr nur eine Geld- und Währungspolitik «im Gesamtinteresse des Landes», sondern sie hat nebst ihrer Hauptaufgabe explizit auch «die konjunkturelle Entwicklung» zu beachten.

Arzt als erster Konjunkturforscher

Es gibt schon seit langer Zeit kein modernes Industrieland mehr, das die Entwicklung der Konjunktur einfach allein den Kräften der Märkte überlassen würde. Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, verortet die Anfänge systematischer Konjunkturforschung bereits im 19. Jahrhundert. Der französische Arzt Clément Juglar fasste seine Beobachtungen über Produktions- und Preisdaten 1862 im Werk «Des Crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux États-Unis» zusammen und setzte damit einen ersten Meilenstein in der Konjunkturforschung.

Der Selfmade-Ökonom vertrat die Auffassung, dass jede Krise ihre Wurzeln in den Zeiten wirtschaftlicher Blüte schlägt. Seine Ansichten zum kollektiven Überschwang, wie er in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung in regelmässigen Abständen von um die zehn Jahren eintritt, fanden 30 Jahre später auch Eingang in die Arbeiten des Nationalökonomen Josef Schumpeter. Der Österreicher begründete 1911 in seiner Schrift «Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung» das Konzept der schöpferischen Zerstörung: Innovationen bringen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum, aber sie führen auch immer wieder zur Zerstörung von Bestehendem und verhindern so das Entstehen eines langfristigen wirtschaftlichen Gleichgewichts. Schumpeters Erkenntnisse sind von stupender Aktualität, wenn man sie mit den von der Digitalwirtschaft ausgehenden, erwarteten wirtschaftlichen Umwälzungen der kommenden Jahre in Verbindung bringt.

Laissez-faire-Kapitalismus am Ende

Doch solche Umwälzungen gehen naturgemäss eher chaotisch vor sich und sind deshalb auch kaum zu steuern. Weit näher liegen den staatlichen Konjunkturplanern deshalb Konjunkturtheorien, die von den Ideen des Engländers John Maynard Keynes in den frühen 1930er-Jahren inspiriert sind. Aufgrund der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise stellte sich Keynes auf den Standpunkt, dass Krisen durch rechtzeitige staatliche Intervention effektiv verhindert oder abgemildert werden können. Mit Blick auf die damalige Depression, die sich insbesondere in einer katastrophalen Massenarbeitslosigkeit manifestierte, argumentierte Keynes, nötigenfalls müsse der Staat dafür sorgen, dass eine ausreichende Auslastung des Produktionspotenzials gewährleistet bleibe.

Konjunkturforschung entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend zu einer vollwertigen Disziplin der Wirtschaftswissenschaften. «Es war eine Mischung von Industrialisierung, wissenschaftlichem Fortschritt, Krieg, Krise und Demokratisierung, die diesen Prozess in Gang brachte», sagt Straumann. «Vor allem die Demokratisierung hat den Druck auf den Staat entscheidend erhöht, sich besser zu informieren und im Krisenfall zu handeln.»

Seither ist der Werkzeugkasten der Konjunkturplaner stetig grösser geworden, und die Erfolge sind nicht ausgeblieben. In der grossen Depression von 1929 bis 1933 brach die Wirtschaftsleistung in allen damaligen Industrieländern um 20 bis 30 Prozent ein. Mit der Abkehr vom damaligen Laissez-faire-Kapitalismus zu einer stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik wurden solche Katastrophen fortan vermieden.

Nationalbanken immer wichtiger

Zunehmend wichtig in der Konjunktursteuerung wurden die Notenbanken, die ihren Einfluss auf das Geschehen im Zug der schrittweisen Abschaffung der Goldstandards und des nachfolgenden Systems weltweit fester Wechselkurse (Bretton Woods) sukzessive entfalteten. Die sogenannten Makromodelle, die von den Konjunkturforschern zur Erklärung der Zyklen über Jahrzehnte laufend verbessert wurden, fanden Eingang bei den Notenbanken und beeinflussten zunehmend deren geldpolitische Entscheidungen. So wurde die Feinsteuerung der Konjunktur nach und nach zu einer geldpolitischen Paradedisziplin.

Finanzkrise von 2007 verpasst

Nach der Erdölkrise 1973 setzte die Schule der sogenannten Neukeynesianer zu einem wirtschaftswissenschaftlichen Siegeszug an, der bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 keine Grenzen zu kennen schien. Das war die Zeit, der die Ökonomen den Namen Great Moderation gaben. Im Februar 2004 verkündete der ehemalige amerikanische Notenbankchef Ben Bernanke das Ende der grossen Wirtschaftskrisen. Tatsächlich hatte die Stärke der konjunkturellen Ausschläge in der Periode von 1980 bis 2008 so stark abgenommen, dass sich die Konjunkturplaner in Siegerstimmung fühlen konnten. Mehr als drei Jahrzehnte mit tiefen Inflations- und vergleichsweise stabilen Wachstumsraten – man habe die Wirtschaft einfach besser in den Griff bekommen, sagte Bernanke vor gut zehn Jahren.

2008 stürzte die Weltwirtschaft in eine Krise, die nun den Namen Great Recession trägt. Das Etikett ist durchaus gerechtfertigt, wenn man die Ereignisse nach dem Lehman-Kollaps und die darauffolgende Schuldenkrise in Europa zusammennimmt. Der Versuch der Notenbanken, aus der Konjunkturforschung zu lernen, sei sicher kein Fehler gewesen, sagt Aleksander Berentsen, Professor für Wirtschaftstheorie an der Universität Basel. Doch man habe bisweilen auch vergessen, dass der Feinsteuerung der Konjunktur letztlich doch enge Grenzen gesetzt seien, stellt er fest.

«Zurück zum Ursprung»

Ökonomen aus der Schule klassischer Prägung, um die es in der Periode der Great Moderation auffallend still geworden war, hatten zwar immer wieder gewarnt, dass die vermeintliche Domestizierung der Konjunkturzyklen viel mehr mit Glück als mit den Fähigkeiten der Konjunkturplaner zu tun haben könnte. Gehört werden diese Stimmen aber erst jetzt, nachdem sich die Illusionen zerschlagen haben. «Wir sollten uns etwas zurück zum Ursprung bewegen», sagt Berentsen und meint damit, dass der Staat den Fokus von der Konjunkturplanung verstärkt auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen legen sollte. Dies schaffe mehr Wachstum und ermögliche zudem einem Land, sich rasch an neue Verhältnisse anzupassen. Noch aber stehen die Konjunkturplaner auf den Kommandobrücken und nehmen Einfluss auf die Fahrtrichtung. Das sei nicht falsch, aber auch nicht ungefährlich, warnt Berentsen: «Viele Ökonomen erwecken bisweilen den Eindruck, als sei die Beherrschung der Wirtschaftszyklen das wichtigste wirtschaftspolitische Ziel. Eine Glättung der Konjunktur ist natürlich erstrebenswert, aber schädlich, wenn dadurch Strukturmassnahmen auf die lange Bank geschoben werden», sagt Berentsen. «Leider geschieht genau das zurzeit in vielen europäischen Ländern, die auf die Notenbanken hoffen, statt wirtschaftspolitische Reformen anzugehen.»

Streit im Parlament angekommen

Der abrupte Übergang zur Great Recession hat die Diskussion über die richtige Wirtschaftspolitik schlagartig neu belebt. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Schweiz, wo die Kontroversen um die Politik der Nationalbank längst im Parlament angekommen sind. Vor zwei Wochen im Nationalrat in Sachen Wirtschaftspolitik ging es hoch zu und her. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann musste sich gegen den Vorwurf der Untätigkeit wehren, der ihm von linken und grünen Kreisen schon vor der Einführung des Euro-Mindestkurses um die Ohren geflogen war. Der Bundesrat leiste der Deindustrialisierung des Landes Vorschub, lautet der Vorwurf. Schneider-Ammann kontert und sagt, er wolle keine interventionistische Industriepolitik und für den Franken sei die Nationalbank zuständig. Auch Konjunkturplanung ist in guten Zeiten offensichtlich ein einfacheres Geschäft als in schwierigen Phasen, wenn sie wirklich hilfreich sein könnte.