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Wie eine kleine Zusatzfrage bei Wahlen das politische System der Schweiz umkrempeln könnte.
Jeder hat sie: Politiker, die er oder sie nicht leiden kann! Und manche mag man so wenig, dass man sie «ums Verrecken nicht» in Regierungsverantwortung sehen will, wie es der Drehbuchautor und Schriftsteller Charles Lewinsky, der in den 90er-Jahren mit der Sitcom «Fascht e Familie» bekannt wurde, kürzlich in der «NZZ am Sonntag» formuliert hat. Hier könnte eine einfache Erfindung helfen, so der Autor, nämlich die Abzugsstimme. Ihr Prinzip ist sehr simpel: Eine zusätzliche Zeile auf dem Wahlzettel ermöglicht es uns Wählern, den Namen eines Kandidaten anzugeben, den wir unter keinen Umständen in einem politischen Amt sehen wollen.
Die Abzugsstimmen werden separat gezählt und dann am Schluss, wie der Name schon sagt, vom Wahlergebnis des Betreffenden abgezogen. Diese «Erfindung», so Lewinsky, habe das Potenzial, das Wählen in der Schweiz komplett zu revolutionieren: Mit dem Ziel, jene Politiker zu verhindern, die wir am allerwenigsten mögen, müssten wir auf Basis der Abzugsstimme neue Taktiken entwickeln. Auch Wahlkämpfe würden anders geführt, da die Politiker nun nicht mehr nur für sich werben würden, sondern eben auch gegen etwaige Opponenten. Sie würden nunmehr alles dafür tun, jede Abzugsstimme, die in die eigene Kasse gehen könnte, zu vermeiden. Die Folge wäre ein anderer, ein neuer Politikstil mit weniger «Shitstorms», also der lawinenartig auftretenden negativen Kritik im Web und Internet, und vielleicht mehr Höflichkeit im Politikbetrieb.
Und vor Neid erblassend würden sich andere Länder fragen, ob sie nicht auch eine Abzugsstimme einführen sollten. Lewinskys Text stellt in erster Linie eine liebevolle Überspitzung unseres komplexen Schweizer Wahlsystems sowie unseres helvetischen Selbstverständnisses, in Sachen Demokratie das Vorbild schlechthin zu sein, dar. Doch nehmen wir die Grundidee, wonach wir Schweizer mittels einer Abzugsstimme nicht nur zum Ausdruck bringen könnten, was wir eigentlich wollen, sondern eben explizit auch, was wir nicht wollen, einmal ernst und treiben sie noch etwas weiter: Wie wäre es, wenn wir Wähler bei unserer Stimmabgabe die Möglichkeit hätten, zu differenzieren zwischen «auf jeden Fall», «ein bisschen», «wenn es sein muss» und «ums Verrecken nicht»?
Willkommen einmal mehr im Universum des unscharfen Wählens, das sich nicht dem Leitsatz verpflichtet sieht, dass es einen alleinigen Gewinner geben muss, sondern eben erlaubt, zu differenzieren. Unser Schweizer Wahlsystem folgt einer Dichotomie, welches die Werte 1 für ja und 0 für nein (bzw. 1 für gewählt und 0 für nicht gewählt) kennt. Doch sind hierzu Alternativen denkbar, indem die unscharfe Logik meines kalifornischen Mentors, der US-amerikanische Informatiker Lotfi Zadeh, auf gesellschaftliche Problemstellungen angewendet wird. Denn gesellschaftliche Entscheidungen lassen sich häufig nicht dichotom treffen, sondern es geht um ein Abwägen. Mit anderen Worten: Sie sollten unscharf sein, also Werte zwischen 0 und 1, zwischen ja und nein und eben zwischen gewählt und nicht gewählt annehmen können.
Der bulgarische Mathematiker Krassimir Atanassov erweiterte Zadehs Logik so, dass neben der Zugehörigkeit auch die Nicht-Zugehörigkeit in abgestufter Form gemessen werden kann. Auf dieser Grundlage könnte eine modifizierte Abzugsstimme tatsächlich einfach in unser Wahlsystem integriert werden. Der Idee, dass «alles eine Frage des Zugehörigkeitsgrads sein kann», wie es der inzwischen verstorbene Zadeh auszudrücken beliebte, gehe ich gemeinsam mit meinem früheren Mentor, dem Freiburger Wirtschaftsinformatiker Andreas Meier, in unserer neuen Buchreihe zur Unschärfe auf den Grund. Je genauer wir uns mit unseren Politikern beschäftigen, desto unschärfer wird deren Wahl. Und genau das reflektiert die Idee der Abzugsstimme so liebevoll!
Edy Portmann ist Informatikprofessor und Förderprofessor der Schweizerischen Post am Human-IST-Institut der Universität Freiburg.