Aussichten
Gefährliche digitale Arrhythmie

Reduktionistisches Denken führt in einer Demokratie zu Problemen. Darum braucht es in Bezug auf Ethik in der Digitalisierung pluralistische Meinungen.

Edy Portmann
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Edy Portmann.

Edy Portmann.

Wenn wir über unsere Demokratie sprechen, dann müssen wir auch über Widersprüche in Aussagen sprechen. Solange unsere Demokratie nicht mit widersprüchlichen Politaussagen angegangen wird, verhindern ihre demokratischen Prozesse nämlich eine Machtübernahme durch Gegner. Mit ihrer Meidung von Extremen gleichen Demokratien Macht aus. Wenn jedoch Menschen oder Organisationen mit ideologischen Absichten Macht über eine Nation erlangen, dann kann es für eine Demokratie brenzlig werden, da der Staat ein Gewaltmonopol besitzt, das von diesen Akteuren missbraucht werden kann. Und da wir uns in unseren Demokratien meistens uneinig sind, welches gute oder schlechte Ideen sind, scheint es für einen demokratischen Staat riskant, mit einer einzigen Anschauung «all-in» zu gehen.

Der Informatiker und Digitalethiker Moshe Vardi ist der Ansicht, dass schon Eubulides von Milet mit seiner Aussage, dass genau «dieser Satz falsch ist», im vierten Jahrhundert vor Christus auf die Probleme von reduktionistischem Denken hingewiesen hat. Sagt Eubulides die Wahrheit oder nicht? Wenn seine Aussage wahr ist, dann ist sie falsch; aber wenn diese falsch ist, dann ist sie wahr. Was nun? Diese Frage sollten wir klären, ruht doch die Digitalisierung auf diesem Denken.

So will eine neue Schweizer Digitalisierungsinitiative einen ethischen Digitalcode von Nullen und Einsen nutzen, wobei unethisch als 0 und ethisch als 1 codiert wird. Doch woher wissen die Digitalethikstrategen denn eigentlich, ob etwas 0 oder 1, gut oder schlecht respektive richtig oder falsch ist? Es gibt innerhalb dieser Kreise bekanntlich Akteure, deren ethischer Kompass in den letzten Jahren verloren gegangen zu sein scheint – oder eventuell nie vorhanden war. Das machen öffentliche Auftritte und Medienberichte immer deutlicher. Dass nun einzelne Strategen aus elitären Kreisen in Bezug auf die Digitalisierung der demokratischen Schweiz ethische Richtlinien erstellen, dürfte deshalb problematisch sein. Dazu ein zweites Paradox von Eubulides.

Die sogenannte «Paradoxie des Haufens» führt uns das ethische 0/1-Aufteilen künstlicher Definitionen vor Augen, die von Digitalisierern trennscharf aufgezeigt werden können, aber dadurch eine Gefahr für unsere Demokratie darstellen. Ein einzelnes Sandkorn macht keinen Haufen. Auch das Hinzufügen eines weiteren Korns reicht nicht aus, um aus einem «Nicht-Haufen» einen Haufen zu machen: Wenn wir eine Häufung von Sandkörnern haben, die aber noch kein Haufen sind, dann wird durch das Hinzufügen eines einzelnen Sandkorns kein Haufen entstehen. Und doch wissen wir, dass wir irgendwann einen Haufen haben werden. Liegt unser Problem also allenfalls darin, dass alle gleich, aber manche gleicher sind? Müsste das unethisch-ethische Spektrum nicht besser gemeinsam ausgelotet werden?

Mit binärer Aufteilung politischer Ansichten induzieren wir unserem demokratischen Land eine Herzrhythmusstörung. Diese digitale Arrhythmie, mit mal zu langsamen, zu schnellen oder unregelmässigen Herzschlägen, gefährdet unsere Demokratie, die jedoch mit der Bundesverfassung einen Verhinderungsmechanismus unethischer Ideen in sich trägt. In der Demokratie hat nämlich jeder eine Stimme. Der ihr zugehörige Prozess garantiert, dass jede Idee diskutiert wird und ein Kompromiss zustande kommt, der verschiedene Meinungen berücksichtigt. Dies hält unser Land gesund. Auch bei digitalen Instrumenten gilt es, sensibel abzuwägen und sich für die zu entscheiden, die unsere Schweiz stärken.

Der gebürtige Luzerner Edy Portmann ist Informatikprofessor und Förderprofessor der Schweizerischen Post am Human-IST-Institut der Universität Freiburg.