AUSBILDUNG: Pflegeberufe boomen – Mangel bleibt

Die Zahl der Lehrlinge und Studenten in Pflegeberufen steigt stetig. Trotz des anhaltenden Trends ist es aber für eine Entwarnung noch zu früh.

Evelyne Fischer
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Ein angehender Fachmann Gesundheit (links) entnimmt unter Instruktionen der Ausbildnerin und unter den Augen seiner Kolleginnen eine Blutprobe. (Bild Nadia Schärli)

Ein angehender Fachmann Gesundheit (links) entnimmt unter Instruktionen der Ausbildnerin und unter den Augen seiner Kolleginnen eine Blutprobe. (Bild Nadia Schärli)

Evelyne Fischer

«Wir brauchen Rekorde, um den steigenden Bedarf an Pflegepersonen weiterhin decken zu können.» Jörg Meyer will sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Der Direktor der Höheren Fachschule Gesundheit Zentralschweiz (HFGZ) konnte kürzlich Spitzenzahlen vermelden: 120 Studenten starteten Ende März ihre Ausbildung an der Höheren Fachschule in Luzern. Im Jahr zuvor zählte die Institution noch 86 Anmeldungen. Dies entspricht einer Zunahme von fast 40 Prozent. Rekord. «Berufe im Gesundheitswesen profitieren derzeit von einem sehr positiven Image», sagt Meyer, der in Luzern für die SP im Kantonsrat politisiert. «Lernende und Studierende spüren die Sinnhaftigkeit ihres Jobs.» Zudem spiele den Ausbildungsstätten auch die aktuelle Marktlage in die Hände. «Wer sich im Gesundheitswesen ausbilden lässt, weiss, dass er auch garantiert einen Job finden wird.»

2000 Lehrlinge und Studenten

Die Spitzenwerte der Höheren Fachschule treiben den generellen Aufwärtstrend in Pflegeberufen voran (siehe Grafik). Im Herbst wurde in der Zentralschweiz bei Lehrlingen und Studenten erstmals die 2000er-Grenze geknackt. Meyer ist zuversichtlich, dass die Kurve der Pflegefachpersonen weiter ansteigt. Grund dafür sind die immer zahlreicheren Fachpersonen Gesundheit (Fage). «Seit zehn Jahren schreiben wir hier an einer Erfolgsstory», sagt Tobias Lengen, Geschäftsführer der Zentralschweizer Interessengemeinschaft Gesundheitsberufe (Zigg) in Alpnach. Dank der Vorbildung als Fage können bald zwei Drittel der Pflege-Studenten den verkürzten, zweijährigen Bildungsgang absolvieren. Mit der 2011 neu geschaffenen zweijährigen Attestlehre der Assistenten Gesundheit und Soziales habe man zudem einen «niederschwelligen Zugang ins Pflegewesen» geschaffen. «Es gibt bereits Absolventen, die sich zur Fage weiterbilden», sagt Lengen. «Die wichtige Durchlässigkeit ist gegeben.»

Fachkräfte aus dem Ausland

Mit positivem Image und besten Jobaussichten lasse sich jedoch nur «ein Teil der Erfolgsgeschichte» erklären, fährt Jörg Meyer fort. «Zentralschweizer Betriebe haben realisiert, dass sie Nachwuchs brauchen, diesen jedoch nur bekommen, wenn sie selber Ausbildungsplätze anbieten.» Vielerorts sprangen zwar zwangsläufig auch ausländische Fachkräfte in die Bresche. «Doch das dort rekrutierte Personal ist ein Tropfen auf den heissen Stein und löst das Problem nicht.»

Angehende Pflegefachpersonen finden in der Zentralschweiz heute in 98 Ausbildungsbetrieben ein Unterkommen – darunter 16 Spitäler, 73 Alters- und Pflegeheime sowie 9 Spitex-Organisationen. Zum Vergleich: Künftigen Fachpersonen und Assistenten Gesundheit stehen 175 Lehrstätten zur Verfügung. Im Kanton Luzern nahmen die Ausbildungsplätze auch dank des Bonus-­Malus-Systems weiter zu. Dieses verpflichtet Heime und Spitex-Organisa­tionen seit 2014, mehr Fachleute auszubilden. Wer der Forderung nicht nachkommt, wird gebüsst. Im Gegenzug werden jene honoriert, die mehr Stellen anbieten als verlangt. «Wie stark dies die Schaffung neuer Ausbildungsplätze vorangetrieben hat, lässt sich derzeit jedoch noch nicht sagen», so Lengen. Die Zahlen würden auch in anderen Zentralschweizer Kantonen steigen. Zug etwa kenne ebenfalls ein Anreizsystem, das Ausbildungsbetriebe mit Beiträgen unterstützt.

Pensionierungswelle macht Sorgen

Trotz der Rekordzahlen in der Ausbildung und des Efforts der Lehrbetriebe sagt Lengen mit Blick auf den Mangel an diplomierten Pflegefachpersonen: «Für eine Entwarnung ist es eindeutig zu früh.» In den nächsten fünf bis sieben Jahren treten schweizweit rund 20 000 Pflegefachpersonen in den Ruhestand. «Diese Pensionierungswelle stellt uns zusammen mit der demografischen Entwicklung vor eine grosse Herausforderung.»

Besonders stark davon betroffen sind Pflegeheime. «Die Lage ist angespannt», sagt Roger Wicki, Präsident des Luzerner Verbands Curaviva für Heime und Institutionen. «Offene Stel­len für Pflegefachpersonen sind schwierig zu besetzen. Auswahl gibt es kaum.» Viele Fage, die in Heimen arbeiten, bilden sich später in Spitälern zur Pflegefachfrau HF weiter und kehren – wenn überhaupt – erst Jahre später zurück. «Gerade junge Berufsleute mögen die dortigen Herausforderungen und Kompetenzen. Auch andere Arbeitszeitmodelle oder die hauseigene Kinderbetreuung machen das Spital zu einem attraktiveren Arbeitgeber. Heime mit geteilten Diensten können hier eher im Nachteil sein.»

Den Mangel an Pflegefachpersonen entschärfen könnte laut Wicki jedoch die neue Berufsprüfung Langzeitpflege und -betreuung, die heuer erstmals abgelegt werden kann. «Diese Weiterbildung ermöglicht es, diplomierte Pflegefachpersonen zu entlasten, ohne dass dafür ein ganzes Studium absolviert wird.» Die Erweiterung der Aufgaben und Verantwortung könnte auch dazu beitragen, die Verweildauer im Beruf zu steigern.

Frauen dominieren

Auf zwei andere Zielgruppen wollen derweil Zigg und HFGZ ihren Fokus richten – Quereinsteiger und Männer. Letztere machen derzeit rund 10 Prozent aller Pflegefachkräfte aus. «Es ist uns ein grosses Anliegen, für die Durchmischung vermehrt Männer zu rekrutieren», sagt Lengen von der Zigg. «Heute dominieren im Pflegeberuf die Frauen.» Um dieses Berufsbild zu verändern, brauche es Vorbilder. Solche bringe man Schülern etwa mit einem «Tag als Profipfleger» am nationalen Zukunfts­-tag näher. «Wir wollen ihnen insbesondere die vielfältigen Karrierechancen schmackhaft machen.» Ebenso wichtig wie die Rekrutierung von Männern sei das Feld der Quereinsteiger. «Trotz Rekordzahlen bei der Fage wollen wir nicht das Bild zementieren, dies sei der einzige Weg in die Pflege», sagt Meyer. «Es braucht Quereinsteiger, die über das dreijährige Studium in diesen Beruf finden.» Derzeit beträgt ihr Anteil rund einen Viertel.

Die Höhere Fachschule stellt sich auf die steigenden Studentenzahlen ein und rüstet sich: Die Bildungsstätte plant derzeit einen 52-Millionen-Neubau auf dem Areal des Luzerner Kantonsspitals. Der Bezug ist auf Herbst 2019 vorgesehen. Ursprünglich war ein sechsstöckiges Gebäude mit Gesamtkosten von rund 40 Millionen Franken geplant. Ende März wurde jedoch entschieden, den Bau mit einem zusätzlichen Untergeschoss zu versehen – ansonsten wäre das Gebäude schon am Tag der Eröffnung fast komplett ausgelastet gewesen.

Gesundheitsberufe unter einem Dach

Strategie fi. Alle Bildungsangebote der Zentralschweizer Interessengemeinschaft Gesundheitsberufe in Alpnach und der Höheren Fachschule Gesundheit Zentralschweiz (HFGZ) in Luzern sollen ab August 2017 strategisch unter einem Dach vereint werden. Geplant ist die Schaffung eines Bildungszentrums Gesundheit Zentralschweiz. Beide Standorte werden beibehalten, Synergien sollen jedoch stärker genutzt werden. «Vom gemeinsamen Auftritt erhoffen wir uns mehr Power nach aussen», sagt HFGZ-Direktor Jörg Meyer, der dem Bildungszentrum vorstehen wird. Die Inhalte von Lehre und Studium sollen so besser aufeinander abgestimmt werden.

«Mehr Männer könnten etwas bewirken»

Schweiz Steigende Absolventenzahlen und doch zu wenig Fachkräfte in Pflegeberufen: Welche Herausforderungen und Chancen gibt es für den Pflegeberuf in der Schweiz? Wir haben Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), nach ihrer Einschätzung gefragt.

Yvonne Ribi, sind die steigenden Absolventenzahlen nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Yvonne Ribi: Tatsache ist, dass alle Versorgungsbereiche Schwierigkeiten bekunden, Pflegefachpersonen zu rekrutieren. Zahlen von 2009 zeigen, dass pro Jahr rund 4700 Absolventen allein aus Fachhochschulen und Höheren Fachschulen nötig wären, um den zukünftigen Bedarf abzudecken. Im Jahr 2014 hatten wir gerade mal 2500 Absolventinnen.

Diese Lücke schliesst ausländisches Personal.
Ribi: Teilweise, denn wir haben trotzdem bereichsübergreifend noch einen Mangel an Pflegefachpersonal. Kommen dann noch allfällige Kontingente wie durch die Masseneinwanderungsinitiative hinzu, wird es prekär.

Wie ist das Verhältnis zwischen inländischen und ausländischen Pflegefachkräften in der Schweiz?
Ribi: Wir gehen von rund 30 Prozent aus, die ein ausländisches Pflegediplom besitzen. Verbessern sich die Zahlen der Abschlüsse nicht, werden wir auch in Zukunft auf ausländisches Personal angewiesen sein.

Wird sich die Lage verbessern?
Ribi: Nur wenn der Pflegeberuf eine Attraktivitätssteigerung erfährt. Denn die Verweildauer der Pflegefachpersonen ist im Vergleich mit anderen Berufen kurz.

Wie lässt sich dies ändern?
Ribi: Es braucht eine Verbesserung der Arbeitsumgebungsqualität. Wichtig sind die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, genug qualifiziertes Personal, Karrierechancen und ein angemessener Lohn. Wir wissen, dass Pflegefachpersonen länger im Beruf bleiben, wenn diese Faktoren stimmen. Ein weiteres Mittel ist die Umsetzung der parlamentarischen Initiative «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege». Wird diese so umgesetzt, wie unser Verband es fordert, dann verliert der Pflegefachberuf den Status als Hilfsberuf. Das würde ihn attraktiver machen.

In welchen Kantonen fehlen besonders viele Fachkräfte?
Ribi: Schwierig zu sagen. Wir schätzen die Situation überall etwa ähnlich ein.

Es gibt immer noch sehr wenige Männer im Beruf. Eine wichtige Zielgruppe für die Werbetrommel?
Ribi: Männer in unserem Beruf sind wichtig, und wir würden es begrüssen, wenn die Anzahl steigen würde. Die Attraktivitätssteigerung durch die parlamentarische Initiative könnte mehr Männer dazu veranlassen, den Pflegefachberuf zu ergreifen. Zusätzlich ist auch dieser «typische Frauenberuf» trotz vergleichbarer Anforderungen mit anderen Berufen beim Lohn benachteiligt. Mehr Männer im Beruf könnten da möglicherweise eine Gegenbewegung bewirken.

Es fehlen besonders Absolventen aus Fachhochschulen und Höheren Fachschulen. Könnte die Zulassung zum Studium gelockert werden?
Ribi: Nach der Lehre Fachangestellte Gesundheit (Fage) ist man grundsätzlich zur Höheren Fachschule zugelassen. In drei Jahren oder sogar in einer verkürzten Ausbildung kann man so das Pflegefachdiplom erlangen. Um den Pflegefachberuf (Bachelor) auch an einer Fachhochschule zu erlernen, ist die Berufsmatura notwendig. In einigen Kantonen gibt es zudem eine Aufnahmeprüfung (Numerus clausus).

Interview Gabriela Jordan

gabriela.jordan@luzernerzeitung.ch

Viele Wege führen heute in die Pflege

Ausbildung fi. Einige Beispiele für Ausbildungen im Pflegebereich:

  • Pflegefachfrau/-mann (HF): Sie tragen die fachliche Verantwortung und sind für die Planung, Ausführung, Delegation und Überwachung der pflegerischen Massnahmen zuständig. Für die Aufnahme an einer Höheren Fachschule braucht es ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis, einen Fachmittelschulausweis oder ein Maturitätszeugnis.
  • Fachfrau/-mann Gesundheit (Fage): Sie übernehmen medizinaltechnische Arbeiten im Auftrag ihrer Vorgesetzten. Sie wechseln Verbände, entnehmen Blut oder geben Spritzen. Die dreijährige Lehre gibt es seit 2003.
  • Assistenten Gesundheit und Soziales: Sie helfen Klienten beim An- und Ausziehen, Waschen, Rasieren oder auf der Toilette. Die Attestlehre dauert zwei Jahre.