Sie waren als Pöstler, Bauarbeiter, Aushilfslehrer, im Service oder sogar mit der Güselabfuhr unterwegs: Zentralschweizer Parlamentarier sagen, welche Schlüsse sie aus ihrer Studienzeit für die Stipendieninitiative ziehen.
Kari Kälin
1 Franken pro Chratte Chriesi: So viel verdiente Peter Keller (44), heute Nidwaldner SVP-Nationalrat, als Primarschüler mit seinem ersten Job. Später absolvierte er das Lehrerseminar in Hitzkirch, machte Stellvertretungen, unter anderem im Kollegi Stans, und studierte an der Universität Zürich Geschichte. Keller bestritt die Kosten ohne finanzielle Unterstützung der Eltern und ohne Stipendien. Während seiner akademischen Ausbildung erledigte er das Büro bei der Metallbaufirma seines Bruders Werner und ging – wenn nötig – mit auf Montage.
Am 14. Juni stimmt das Volk über die Stipendieninitiative ab. Das Ziel: Bei der Stipendienvergabe sollen in allen Kantonen die gleichen Regeln gelten, zudem sollen die Stipendien den Studenten einen minimalen Lebensstandard gewähren. Die jährlichen Mehrkosten: rund 500 Millionen Franken. Keller lehnt das Volksbegehren ab. «Die Allgemeinheit finanziert schon mit Milliarden Franken Steuergeldern die Hochschulen. Dass die Initianten jetzt auch noch für jeden Studierenden 2000 Franken im Monat Stipendien wollen, ist frech – vor allem auch gegenüber allen Jugendlichen, die einen Beruf lernen.»
Ganz anders sieht dies Louis Schelbert (62). «Da Kinder aus weniger bemittelten Familien geringere bis keine Chancen auf ein Studium haben, braucht es diesen staatlichen Ausgleich», sagt der Luzerner Nationalrat (Grüne). Arbeitersohn Schelbert, der an der Universität Bern Deutsch, Geschichte und Philosophie studierte, erwies sich als vielseitiger Werkstudent. Zu Gymizeiten half er bei der Bahnpost aus. Er entsorgte Güsel mit der Müllabfuhr der Stadt Luzern, lieferte mit der PTT Telefonstangen aus, später wirkte er auf verschiedenen Stufen als Aushilfslehrer. Schelbert bezog während dreier Jahre ein Stipendium und ein zinsloses Darlehen von jeweils 3000 Franken. Später verzichtete er auf Unterstützung, sagt aber mit Blick auf die kommende Abstimmung. «Meine Geschichte kann nicht der Massstab für alle sein.»
Zwischen Hörsaal, Seminaren und Prüfungen jobben heute drei Viertel der Studenten. Unsere Zeitung wollte von den Zentralschweizer Parlamentariern mit Hochschulabschluss wissen, ob sie während ihres akademischen Werdegangs mit Nebenjobs ihr Budget aufgebessert haben. Das Resultat: Alle Politiker sorgten auf die eine oder andere Weise eigenverantwortlich für Verdienste – oder mussten, wie die Luzerner SVP-Nationalrätin Yvette Estermann (48) (Medizin in der Slowakei), als Gegenleistung zum Gratisstudium den Spitälern zur Verfügung stehen.
Auf die Haltung zur Stipendieninitiative hat die eigene Nebenerwerbsbiografie keinen Einfluss. Sie folgt der Parteien-Logik: Rechts legt ein Nein in die Urne, links ein Ja. Zum Beispiel Prisca Birrer-Heimo (56), die sich an der Universität Zürich zur Sekundarlehrerin ausbilden liess. «Ob jemand studieren kann oder nicht, sollten nicht der Wohnort oder das Portemonnaie der Eltern entscheiden», sagt die Luzerner SP-Nationalrätin. Als sie 16-jährig war, verunglückte ihr Vater tödlich. Für ihr Studium erhielt sie Stipendien und ein Darlehen, ohne eigenen Verdienst im Büro, im Service und als Aushilfslehrerin hätte das Budget aber nicht gereicht.
Die Zentralschweizer Volksvertreter erwiesen sich in diversen Branchen als taugliche Arbeitskräfte. Einer von ihnen ist Jurist Karl Vogler (59). Der Obwaldner CSP-Nationalrat wirkte mit 16 Jahren an Wochenenden bei der damaligen Luftseilbahn Lungern–Turren–Schönbüel als Seilbahnbegleiter und vieles mehr. Nach der Matura verdiente er als Kellner ein Zubrot. Die Stipendieninitiative lehnt er ab. «Der Anreiz zu individueller Leistungsbereitschaft wird damit untergraben», sagt er. Vogler gehört zusammen mit Peter Keller zu einer kleinen Gruppe von Politikern, die ihr Studium oder die Fachhochschulen aus eigenen Mitteln bestritt. Der Luzerner FDP-Nationalrat und Sanitär Peter Schilliger (55) hatte genug Geld zu Seite gelegt, bevor er in Bern während zweier Jahre eine Technikerschule besuchte. Zu den Autarken zählt auch der Luzerner CVP-Ständerat Koni Graber (56), der an der Hochschule Luzern Betriebswirtschaft studierte. Er zehrte von Einkünften aus der Vorstudienzeit bei einer Treuhandgesellschaft, war später auch Aushilfslehrer und schrieb Zeitungsberichte.
Weitaus am verbreitetsten war folgendes Modell: Einen Teil der Ausbildung übernehmen die Eltern – oder sie leisten eine Vorfinanzierung. Wie zum Beispiel beim Luzerner CVP-Nationalrat Leo Müller (57), der zuerst in Zollikofen BE Agro-Ingenieur und später an der Universität Bern Jurist wurde. Er verdiente unter anderem als Lastwagenfahrer (Prüfung im Militär) Geld. Der Zuger FDP-Nationalrat Bruno Pezzatti (64), ETH-Ingenieur-Agronom, schaute mit Korporationen in Zuger Wäldern nach dem Rechten oder brachte bei der Sihlpost Express-Pakete zum Hauptbahnhof Zürich. Als Freizeitpöstler betätigte sich auch der Luzerner FDP-Ständerat Georges Theiler (66). Der Betriebsingenieur (ETH) berappte damit seine Reisen, das Studium bezahlte sein Vater.
Der Germanist und Zuger CVP-Nationalrat Gerhard Pfister (52) stand als Aushilfspädagoge vor Schulklassen, der Obwaldner FDP-Ständerat und Jurist Hans Hess (70) bewährte sich unter anderem als Kellner. Die Urner FDP-Nationalrätin und Juristin Gabi Huber (59) verdankte die elterliche Unterstützung mit einem Turboabschluss: In 7 Semestern schaffte sie das Lizenziat an der Universität Freiburg – trotz Nebenjobs im Service. Der Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi (36) legte sich unter anderem als Sandwich-Macher und -Verkäufer bei einer US-Imbisskette einen Vorrat für sein Studium der Betriebswirtschaft in St. Gallen an. Als Journalist (20 Rappen pro Zeile) verbesserte der Sekundarlehrer und Zuger FDP-Ständerat Joachim Eder (63) sein Einkommen. Er berichtete über Schwingfeste, den EV Zug und Generalversammlungen aller Art. Andy Tschümperlin (53), Schwyzer SP-Nationalrat und Lehrer, half derweil bei der Messerfabrik Victorinox oder bei Malerarbeiten im Geschäft seines Vaters.
Mit einem Mix aus Stipendien oder Darlehen, Ferienjobs sowie teilweise elterlicher Unterstützung schafften der Schwyzer SVP-Ständerat Peter Föhn (62), der Urner GLP-Ständerat Markus Stadler (66) und der Luzerner GLP-Nationalrat Roland Fischer (50) ihre Ausbildung. Primarlehrer Peter Föhn ging auf den Bau und zahlte später seinen Eltern das geliehene Geld zurück. Ökonom Roland Fischer bewährte sich als Assistent der Eidgenössischen Militärbibliothek in Bern, Ökonom Markus Stadler betätigte sich bei der Post.
Bleiben noch Pirmin Schwander (53), Ökonom und Schwyzer SVP-Nationalrat, sowie Peter Bieri (62), ETH-Agronom und Zuger CVP-Ständerat. Sie bilden je eine eigene Kategorie. Sie wissen es nicht mehr exakt oder wollen ihre Studienfinanzierung nicht vollständig offenlegen. Ob ihn seine Eltern unterstützt haben, kann Schwander nicht mehr sagen. Stipendien hat er keine bezogen. Er selber packte als Schlosser in Küsnacht ZH bei der Schneeräumung der Stadt Zürich mit an.
Peter Bieri lehnt derweil den von uns erbetenen Informationsaustausch zur Bildungsfinanzierung ab. Ob er Stipendien, ein Darlehen oder Unterstützung von den Eltern erhalten habe, sei genauso Privatsache wie die Steuerdaten. Immerhin verrät er, dass er sein Studium «geringen Löhnen» aus landwirtschaftlichen Praktika oder Arbeiten als Dachdecker- und Sanitärgehilfe mitfinanziert hat. Transparenz schafft er dafür über seine Abstimmungsabsichten. Er verwirft die Stipendieninitiative aus den gleichen Gründen wie alle bürgerlichen Parlamentarier: Eingriff in die kantonale Autonomie, höhere Kosten und falsche Anreize für Studierende.
Andere Argumente führen linke Politiker ins Feld. Andy Tschümperlin zum Beispiel wittert in der Initiative ein Mittel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels und zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Schweiz.