Eine Kurzgeschichte der Schwyzer Bestsellerautorin Blanca Imboden.
Dieses Jahr werde ich das Weihnachtsfest einfach ignorieren, verweigern, boykottieren. Soll doch Weihnachten feiern, wer will. Ich habe keine Lust auf Lametta. Aber es ist schwierig, denn Weihnachten lauert überall, hartnäckig und hinterhältig, wie Grippeviren. Dass die Einkaufszentren schon im Oktober glitzern und funkeln und dort aus den Boxen schon im November «Stille Nacht» trötet, ist ja bereits normal. Aber selbst mein Zahnarzt hat jetzt im Wartezimmer einen leuchtenden Weihnachtsmann aufgebaut, und meine Nachbarin, die das ganze Jahr über kaum grüsst, fragte mich gestern im Treppenhaus, wie ich denn mein Weihnachtsfest verbringen werde, jetzt, wo mein Mann ausgezogen sei.
Theo ist weg. So etwas spricht sich natürlich schnell herum. Eigentlich könnten doch alle froh darüber sein, denn er hat Schlagzeug gespielt. Schlagzeuger sind in Wohnblocks etwa so beliebt wie Schlangenzüchter. Dieses Jahr wird – Theo sei Dank – Weihnachten wirklich eine «stille Nacht». Aber auch mit der Stille kann halt nicht jeder umgehen.
Theo ist weg. Er ging einfach, gleichzeitig mit dem Sommer. Die Herbstblätter fielen wie meine Tränen. Und jetzt ist Winter, und ich bin allein, und Weihnachten kann mich mal.
«Ich möchte ein paar Tage verreisen», erkläre ich meiner Freundin Martha, die in einem Reisebüro arbeitet. «Einfach irgendwohin, wo ich nichts von Weihnachten mitbekomme.»
«Ach Tina, wie kannst Du nur! Du kannst gerne mit uns feiern, wenn du möchtest», bietet sie mir an. Sie hat keine Ahnung, dass dies genau das Letzte ist, was ich möchte: Stiller Zaungast sein bei ihrem perfekten Familienglück unter dem Tannenbaum. So viel Friede, Freude, Eierkuchen, das könnte ich jetzt nicht ertragen.
«Ich kann dich nur warnen: Auch im entferntesten islamischen Land wirst du einen zuvorkommenden Hotelier antreffen, der dir am Heiligen Abend auf seiner Balalaika ein Weihnachtslied spielt. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Taliban sich insgeheim bunt eingepackte Geschenke zustecken. So ist es halt.»
So ist es halt. Aha.
«Warum bleibst du nicht einfach daheim, schaltest den Fernseher aus, wirfst eine Schlaftablette ein und, schwups, ist Neujahr?»
Grossartiger Vorschlag! An Silvester wollte ich eigentlich noch gar nicht denken. Zuerst gilt es mal, Weihnachten zu überstehen.
«Das wäre doch eine Marktlücke: Man müsste irgendwo am Meer ein Hotel anbieten, das eine garantiert weihnachtsfreie Zone ist», denke ich laut. Martha schüttelt den Kopf, denn sie liebt Weihnachten über alles, bastelt mit ihren Kindern Geschenke, backt Plätzchen, kocht Festtagsmenüs für die ganze Sippe ...
«Du, ich habe eine Idee», sagt sie plötzlich und lächelt. «Es ist zwar kein Luxusresort, dafür kostet es auch nichts.»
Sie wühlt in einer Schreibtischschublade und findet dort einen alten, rostigen Schlüssel. Diesen hält sie mir entgegen wie ein kostbares Fundstück und verkündet feierlich: «Das ist der Schlüssel zu deiner weihnachtsfreien Zone.»
Eine Woche später, es ist zwei Tage vor Weihnachten, fahre ich mit der Standseilbahn auf den Stoos, Theos grossen Rucksack geschultert, mit dem er um die Welt trampen wollte, wozu er schliesslich doch zu bequem war. Das Gewicht zieht mich richtiggehend nach hinten. Aber da die Berghütte keinen Strom hat, es kalt sein wird und die Wasserleitungen vielleicht eingefroren sind, musste ich schon einiges einpacken. Der Fussmarsch durch die verschneite Landschaft tut mir gut. Ich ziehe die frische Luft tief in meine Lungen. Der Blick in die fantastische Bergwelt bestätigt mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Die verlassene Hütte, die Marthas Familie gehört, passt genau zu meiner Stimmung. Ich werde mich dort verkriechen, ab und zu ein wenig spazieren, mich von den Strapazen der letzten Monate erholen, viele Bücher lesen, und sonst? Gar nichts.
Die Hütte zu finden, ist leicht. Martha hat mir einen Plan gezeichnet. Sie zu erreichen, bringt mich allerdings gehörig ins Schwitzen. Ich stapfe durch den hohen Schnee Richtung Fronalpstock, und dann stehe ich am Ziel. Meine Güte! Wirklich nur eine Hütte. Der Stall von Bethlehem persönlich. «Kein Luxusresort» ist eine Untertreibung. Aber der alte, schwere Schlüssel hatte dieses ja auch nicht wirklich versprochen. Ich stosse die Türe auf und trete ein. Es muffelt. Einen kleinen Moment lang suche ich nach einem Lichtschalter, um mich dann selber auszulachen. Kein Strom, kein Licht, kein Fernsehen. Ein Blick auf mein Handy bestätigt mir: nicht einmal ein Netz! So muss eine Auszeit sein.
Ich öffne die Fensterläden und heize zuerst einmal den Holzofen ein, der gleichzeitig auch die Heizung ist. Damit bin ich schon einmal eine Stunde beschäftigt. Die Hütte ist erstaunlich sauber. Sie wird wohl doch häufiger benützt, als Martha vermutet hatte. Das Plumpsklo, für das man sich zuerst durch den Schnee wühlen muss, ist gewöhnungsbedürftig, aber brauchbar. Der Brunnen vor dem Haus tropft nur noch vor sich hin, aber immerhin. Es gibt ein grosses Bett und einen grossen Tisch. Was braucht man mehr? Mit einer viel zu schweren Schneeschaufel räume ich den Weg zum Klo frei. Das gibt Wärme von innen. Es wird dunkel. Ich hole noch mehr Holz in die Hütte, damit es schon mal trocknen kann. Später zünde ich das Öllämpchen an und erfreue mich an dem bescheidenen Licht. Irgendwann sitze ich einfach da und lausche in die Stille hinein, müde und zufrieden.
Am 24. Dezember in einer schneeverzauberten Landschaft aufzuwachen, das hat was. Ich habe in Theos Schlafsack nichts von der Kälte gespürt, die hier oben, knapp unter dem Fronalpstock, schon wieder herrscht. Also anfeuern, Schnee schaufeln. Das hilft. Ja, jetzt ist also Weihnachten. Andere schmücken ihre Bäume, stimmen ihre Instrumente, bereiten ihr Festessen vor. Gut, dass immerhin meine Mutter nicht anrufen kann, um mir zu sagen, wie leid ich ihr tue, so einsam und alleine in den Bergen. Das würde mich dann doch zum Weinen bringen. Da lese ich lieber weiter in meinem dicken Krimi, wo einer dem anderen gerade die Kehle aufschlitzt. Weihnachten findet woanders statt.
Am Nachmittag stapfe ich ein wenig durch die Gegend, wage mich bis zur Skipiste vor und schaue, wie die Leute in einem Höllentempo ins Tal brettern. Der Himmel ist blau, und der frische Schnee glitzert so, als habe auch der Winter seinen Weihnachtsschmuck ausgepackt. Bald zieht es mich wieder zur Hütte zurück.
Aber was sehe ich da? Ist das Christkind gekommen? Tatsächlich führen frische Fussspuren zur Hütte, und drinnen brennt ein Licht. Das kann doch wohl nicht wahr sein? Ich spüre eine ziemlich heftige Wut in mir aufsteigen. Irgendjemand ist in meine friedliche Weihnachtsoase eingedrungen. Am Ende hat er noch Lametta und Lebkuchen mitgebracht. Ich reisse die Türe auf, und da sitzt er, trinkt Kaffee und sitzt urgemütlich an meinem Tisch. Er hat Holz aufgelegt, zwei Kerzen angezündet, das Öllämpchen angemacht und liest Zeitung, alles ganz so, als wäre er hier zu Hause.
«Hallo», sagt er nur frech und lächelt mich an.
«Wer sind Sie?», frage ich und bin schockiert zu sehen, wie er sich in meiner Hütte schon eingerichtet hat.
«Ich bin Stephan. Aber wer bist du, und was machst du in unserer Hütte? Könntest Du bitte die Tür zumachen!», antwortet er gelassen.
Ich protestiere: «Meine Freundin Martha hat mir den Schlüssel gegeben. Es ist ihre Hütte.»
«Oh, da liegst du falsch. Es ist unsere Hütte. Ich bin Marthas Bruder und auf der Flucht vor Weihnachten. Keiner weiss, wo ich bin, und jetzt muss ich dich wohl umbringen, sonst fliegt mein Geheimnis auf.»
Ich kann nicht anders, ich muss einfach lachen, und schliesslich lachen wir beide. Stephan sieht umwerfend gut aus, so, als sei er einem Spielfilm entstiegen, ein sportlicher Bergler mit blonden Haaren.
«Ich bin auch auf der Flucht vor Weihnachten», sage ich schliesslich und frage: «Hast du auch wirklich weder Lametta noch Lebkuchen dabei?»
Stephan schüttelt den Kopf und zeigt auf seine Vorräte. Er hat vor allem den Weinvorrat aufgestockt und ein paar Konservendosen mitgebracht. Wenn er nicht so charmant und sympathisch wäre, würde ich jetzt einpacken und gehen. Aber ich lasse mich gerne überreden, eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken, und schon bald tauschen wir unsere Gedanken aus, reden erstaunlich offen miteinander. Hier in der Abgeschiedenheit fällt das leicht. Irgendwann stellen wir fest, dass keine Bahn mehr ins Tal hinunterfährt.
«Wir werden Weihnachten also gemeinsam ignorieren müssen», erklärt Stephan und schmunzelt. «Ich schlafe auch in meinem eigenen Schlafsack, versprochen.»
Wir essen Ravioli, trinken Rotwein dazu. Zur Nachspeise gibt es Kaffee und alte Militärkekse, die nach Karton schmecken.
«Du wolltest ja keinen Lebkuchen», neckt mich Stephan. Wir finden schnell einen vertrauten Umgangston. Wir verstehen uns. Wir sind Seelenverwandte, nicht bloss, was Weihnachten betrifft. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ab und zu ergreift Stephan einfach beim Plaudern meine Hand und hält sie fest. Ich ziehe sie dann zurück, aber erst, nachdem ich einen Moment lang das Gefühl genossen habe, das seine Berührung in mir auslöst. Stephan findet in einer Schublade ein zerfleddertes Kartenspiel, und wir spielen. Dazwischen reden wir über Gott und die Welt und vergessen Karten und Weihnachten, trinken Wein und stossen auf die weihnachtsfreie Zone an. Stephans Anziehungskraft ist enorm. Aber noch stemme ich mich dagegen. Bloss weil wir gerade zufällig gemeinsam hier sind, muss ich mir doch nicht einreden, ich hätte mich verliebt. Dafür bin ich viel zu vernünftig, zu gut erzogen – und wohl auch zu erfahren.
Einmal sagt Stephan zu mir: «Du verstösst gegen die Regeln!» Ich schaue ihn fragend an, und er erklärt: «Deine Augen glänzen und strahlen wie Weihnachtssterne.» Er ist süss. Besser, ich schaue ihn nicht mehr an. Lieber schaue ich tiefer ins Glas.
Später meint Stephan: «Ist dir eigentlich klar, dass wir hier schon längst Weihnachten feiern? Es ist das Fest der Liebe. Spürst du es auch?»
«Ich hätte inzwischen gar nichts gegen ein wenig Lametta, ehrlich», gebe ich zu und staune über mich selber.
Es ist, als hätte Stephan nur auf dieses Stichwort gewartet. Er ist nicht mehr zu bremsen. «Zieh dich warm an!», rät er mir und schnürt seine Winterstiefel. Dann packt er seinen Rucksack. Ich ziehe meine dicke Jacke an, und wir verlassen die Hütte, treten hinaus in eine sternenklare Nacht. Die kalte Luft tut mir gut, und ich merke, dass ich mehr getrunken habe, als mir guttut. Stephan findet den Weg trotzdem. Zuerst stapfen wir Hand in Hand durch den hohen Schnee, treffen dann auf die Skipiste, an deren Rand wir hochsteigen. Der Mond gibt uns Licht. Irgendwann stehen wir vor einem Skihaus.
«Du wolltest Lametta, du bekommst es auch», erklärt Stephan grossspurig. Noch sehe ich bloss eine Terrasse und ein paar Bäume. Doch Stephan geht ums Haus herum. Er kenne sich hier aus. Und plötzlich geht die Weihnachtsbeleuchtung an. Vier wunderbare Christbäume leuchten. Das Geländer strahlt in bunten Farben. Ein Elch mit Schlitten blinkt bunt daher. Schon ist Stephan wieder bei mir und legt die Arme um mich.
«Frohe Weihnachten!» «Frohe Weihnachten!», antworte ich aus tiefstem Herzen.
Hallo, wer ist da unten? Ihr spinnt wohl!», schreit einer aus dem Fenster, mitten in die pure Idylle hinein. War ja auch wirklich zu kitschig, so schön romantisch, wie sich alles entwickelt hatte.
«Wartet, ich komme runter!», droht die Stimme erbost. Es ist Mitternacht, und er ist sauer. Kein Wunder.
Stephan beruhigt mich: «Das ist ein guter Freund. Peter. Er wird uns Weihnachten nicht verderben.» Er sei nur verwundert, ihn heute hier anzutreffen, wo er doch Weihnachten immer bei seiner Familie im Unterland feiere.
Tatsächlich gibt es ein friedliches Hallo, als die beiden sich erkennen. «Die Kinder wollten dieses Jahr unbedingt hier oben Weihnachten feiern», erklärt Peter seine unerwartete Anwesenheit. Er bittet uns sogar hinein in seine Gaststube, und nach und nach kommt seine ganze Familie wieder aus den Betten gekrochen, neugierig und verwundert über so späte, unerwartete Gäste. Die Idee, dass jemand versucht hatte, Weihnachten zu ignorieren, finden die Kinder total abwegig. Sie legen sich richtig ins Zeug. Eine weihnächtliche CD wird aufgelegt, man bietet mir Weihnachtskekse an, Peters Frau kocht Kaffee dazu.
Ich sitze neben Stephan, der seinen Arm wie selbstverständlich um mich gelegt hat, und wundere mich über gar nichts mehr.
«Weihnachten ist doch schön, oder?», fragt die kleine Rita, die mit ihren blonden Locken wie ein Weihnachtsengelchen aussieht, und legt feierlich ein feuchtes, klebriges Gummibärchen in meine Hand.
Stimmt.
Weihnachten ist schön.
Nicht immer, aber heute auf jeden Fall.
Hinweis
Die Ibächlerin Blanca Imboden ist Autorin. In diesem Jahr sind von ihr zwei Bestseller in Buchform erschienen: «Wandern ist doof» und «Drei Frauen im Schnee». www.blancaimboden.ch