Man wusste immer, dass es auch mal richtig heftig werden könnte. Und trotzdem kam das Wasser im August 2005 mit einer Wucht, welche selbst die Betagtesten noch nicht erlebt hatten. Weite Teile der Zentralschweiz wurden überflutet. Eine Chronik der dramatischen Ereignisse.
Es war, nicht untypisch für hiesige Sommer, recht wechselhaft, das Wetter im August 2005. Schon Mitte Monat gab es einige heftige Gewitter, dann zwei sonnige Tage. Am Donnerstag, 18. August, und Freitag, 19. August, regnet es wieder kräftig. So weit, so normal.
Am Samstag, 20. August, bildet sich über dem Golf von Genua ein «Bodentief», das sich in den folgenden Tagen langsam ostwärts über Norditalien, die Adria und den Balkan bewegt. Dabei wird über Tage feuchte Meeresluft im Gegenuhrzeigersinn um die Alpen herum getragen. Dies führt zu grossflächigen Landregen in den Voralpen und im Mittelland.
Nun ist ein solches «Genua-Tief» keine Seltenheit. Aber das Tempo der Luftmassenverschiebungen ist aussergewöhnlich und überrascht sogar die Experten. Auch die Wettermodelle der Computer erkennen die Gefahr praktisch erst, als das verheerende Wasser bereits niedergeht. Erst am Morgen des 22. August beschreiben Unwetterwarnungen das volle Ausmass der Niederschläge. Da gibt es bereits massive Schäden.
Im Nachhinein wird klar, dass auch der Wetterverlauf des gesamten Augusts die Schäden mitverursacht hat. Wegen der bereits vorher starken Regenfälle sind Aufnahmefähigkeit und Stabilität der Böden schon stark eingeschränkt. Hinzu kommt die extrem hohe Schneefallgrenze von meist über 2500 Metern in diesem Sommer. Dies führt dazu, dass nur der geringste Teil der Niederschläge in Form von Schnee gebunden wird.
Zu den ersten Brennpunkten gehört die Stadt Luzern, wo es bereits am 21. August zu ersten Evakuationen kommt. In verschiedenen Quartieren ist das Wasser knietief. Auch aus vielen anderen Orten wie Willisau, Wolhusen oder Root gehen Notrufe ein, Häuser stehen nicht nur unter Wasser, sondern werden von Hangrutschen bedroht. Vielerorts werden Strassen zerstört, Zuglinien unterbrochen. Auch im Kanton Zug erhält die Polizei Dutzende von Meldungen. Besonders stark betroffen ist zunächst Rotkreuz. In Alpnachstad kommt es zu einem massiven Erdrutsch, Sorgen bereitet auch der Pegel des Sarnersees.
Doch noch sind diese Ereignisse erst Vorboten. Richtig los geht es in der Nacht vom 21. auf den 22. August mit sintflutartigen Regenfällen, am 22. August wird das Ausmass der Katastrophe sichtbar.
Doch bei all den dramatischen Schauplätzen und spektakulären Bildern, etwa die von einer Flutwelle fortgespülte Strasse in Werthenstein, der meterhoch überschwemmte Seetalplatz oder das komplett im Wasser stehende Dorf Ennetbürgen: An dem Tag überwiegt die Betroffenheit über den Tod von zwei Feuerwehrleuten in Entlebuch. Sie haben ihr Leben in einem Hangrutsch verloren, als sie bei einem Bauernhof helfen wollten. Ein Schock nicht nur für die Familien – beide Feuerwehrleute haben Kinder –, sondern auch für die an den Einsätzen beteiligten Rettungskräfte, die in diesen Tagen Gigantisches leisten.
Es sollten die einzigen Todesopfer des Unwetters in der Zentralschweiz bleiben (vier weitere gibt es am nächsten Tag in Bern, Zürich und Graubünden). Viele andere haben insofern Glück, als sie «nur» ihr Hab und Gut verlieren. Zum Beispiel die Bewohner eines Bauernhauses in Flühli, als der angebaute Stall samt Tieren in die Tiefe gerissen wird.
Zu den vielen überschwemmten Orten gehört etwa Littau (heute zu Luzern gehörend), wo 450 Personen evakuiert werden müssen. 1500 sind es im ganzen Kanton Luzern. Hunderte weitere in den übrigen Zentralschweizer Kantonen, darunter in Engelberg, in Flüelen und Isenthal, im Schwyzer Talkessel oder im Ägerital, dort auch Patienten der Klinik Adelheid, in deren Nähe ein Hang abrutscht. Besonders stark betroffen ist auch Obwalden: Ausser Lungern stehen alle Gemeinden unter Wasser, auch Sarnen, wo der Strom ausgefallen ist. Der Sarnersee hat die Rekordmarke weit überstiegen. Auch in Nidwalden sind viele Orte betroffen, ganz besonders Wolfenschiessen, aber auch Stansstad und Stans. Im dortigen Kantonsspital fällt der Strom aus, Patienten müssen verlegt werden. Im Kanton Uri steht neben Flüelen auch das Industriegebiet Schattdorf/Altdorf unter Wasser.
Viele Bahnstrecken und Strassen sind unterbrochen, darunter die Kantonsstrasse im Ägerital, die Strasse ins Melchtal oder die Axenstrasse. Ganze Dörfer sind abgeschnitten.
Dann tritt nochmals die Stadt Luzern in den Brennpunkt. Am 22. August, kurz vor Mitternacht, erreichen See und Reuss die kritische Hochwassergrenze. Wieder gehts überraschend schnell.
Das Bild, das sich am 23. August bietet, wird wohl niemand vergessen: Die Innenstadt Luzerns steht unter Wasser. Die Feuerwehr ist im Grosseinsatz, muss aber den Uferschutz zugunsten des Schutzes einzelner Objekte preisgeben. Gewerbetreibende in der Altstadt versuchen, mit Sandsäcken und Plastikfolien ihr Eigentum zu schützen. Der Verkehr bricht zusammen, auch die Autobahnzufahrt beim Kasernenplatz muss gesperrt werden. Hier steht das Wasser zeitweise 1,50 Meter tief, die Feuerwehr muss bei einem zusätzlichen Wassereinbruch aus dem Tunnel fliehen.
Doch während die Überschwemmungen an vielen anderen Orten vor allem den Eindruck von Zerstörung vermitteln, haben sie in Luzern auch etwas Pittoreskes. Viele Stadtbewohner und noch mehr Schaulustige gewinnen dem Ganzen auch Unterhaltsames ab, und manch einer schwimmt oder fährt mit dem Boot durch die Stadt.
Derweil sich in Engelberg Dramatisches abspielt: Wegen Unterbruchs von Strasse und Bahnlinie sind 5000 Menschen eingeschlossen, der Strom ist weg, eine Luftbrücke wird eingerichtet. Die Situation wird sich erst am 8. September dank einer Notstrasse entschärfen.
Bereits an diesem 23. August gibt es kaum mehr Niederschläge. In der ganzen Zentralschweiz ist man mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Nach einigen Tagen tritt wieder so etwas wie Normalität ein, auch Luzern ist wieder trocken. Am 29. August wird die Seebrücke wieder für den Verkehr geöffnet. Am schwierigsten ist die Rückkehr in den Alltag für Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben. Oder viel mehr. Wie die Familien der Entlebucher Feuerwehrmänner.
Wie sehr das Hochwasser alle überrascht hat, zeigt auch folgende Anekdote: In der Ausgabe der «Neuen Luzerner Zeitung» vom Samstag, 20. August, kommt das Wetter nur in der Frontmeldung vor, laut der das Leichtathletikmeeting in Zürich verregnet worden sei. Da damals noch keine Sonntagsausgabe erschien, folgte die Fortsetzung erst am Montag, 22. August: Neben dem Frontbeitrag wurde auf anderthalb Seiten über das Unwetter berichtet. Einen Tag später, am 23. August, erfolgte die Berichterstattung auf acht Seiten plus Front. Gar dreizehn Seiten (immer mit eigenen Versionen in den Regionalausgaben) waren es am Mittwoch, 24. August. Erst am Samstag, 28. August, kehrte auch in die Berichterstattung die Normalität ein.