Der diskrete Charme der Luzerner Patrizier

Die einst einflussreiche Luzerner Familie am Rhyn feiert ihr 500-Jahr-Jubiläum. Früher stellte sie viele Stadtpräsidenten, heute gehört ihr in der Stadt noch der historische Freihof Geissenstein. Dessen künftige Nutzung steht auf der Kippe.

Hugo Bischof
Drucken
Peter am Rhyn vor dem Freihof Geissenstein. (Bild: Philipp Schmidli, Luzern, 18. Mai 2018)

Peter am Rhyn vor dem Freihof Geissenstein. (Bild: Philipp Schmidli, Luzern, 18. Mai 2018)

Kupferstich um 1790: Idyllische Landschaft mit dem Freihof Geissenstein (links), hinten die Rigi. Perspektive und Dimensionen sind nicht ganz realitätsgetreu (der Freihof hat in Wirklichkeit nur drei Geschosse). (Bild: PD)

Kupferstich um 1790: Idyllische Landschaft mit dem Freihof Geissenstein (links), hinten die Rigi. Perspektive und Dimensionen sind nicht ganz realitätsgetreu (der Freihof hat in Wirklichkeit nur drei Geschosse). (Bild: PD)

Am 29. Mai 1518 wurde ein gewisser Michel am Rin in der Stadt Luzern eingebürgert – mit seinem Sohn Jost. Das ist dem Bürgerbuch der Stadt Luzern zu entnehmen, dessen Original sich heute im kantonalen Staatsarchiv befindet. Es war der «Samstag vor Trinitatis», dem Fest der Dreifaltigkeit am Sonntag nach Pfingsten. Die am Rin – später Amrhyn oder am Rhyn geschrieben – wurden bald eines der führender Patriziergeschlechter der Stadt Luzern (siehe Kasten). Das 500-Jahr-Jubiläum der Einbürgerung feiern die heutigen Nachkommen am 26. Mai mit einem Anlass im Rathaus, an dem auch der Stadtrat vertreten ist.

«Zechen gulden», zahlbar in Raten à «zween gulden» jeweils an «fronfasten», betrug 1518 die Einbürgerungsgebühr – gemäss heutigem Wert wohl ein paar hundert Franken. Die am Rin kamen vermutlich aus Feldkirch bei Strassburg im Elsass. Sie waren von Beruf Gerber und Schuhmacher. Ihr politischer Aufstieg war fulminant. Jost am Rin nahm schon 1553 im Grossen Rat und 1563 im Kleinen Rat der Stadt Luzern Einsitz. Sein Enkel Walthart eröffnete 1624 die Reihe der Schultheissen aus der Familie Amrhyn. Er wurde 1599 durch Herzog Karl Emanuel von Savoyen nobilitiert und zum Ritter des Ordens des Heiligen Mauritius und Lazarus geschlagen. Ihm folgten Joseph (1625-1692), Carl Anton (1660-1714) und Walter Ludwig Leonz (1716-1793).

Majestätisch, aber auch etwas geheimnisvoll

Was einem beim Namen am Rhyn in Luzern als erstes in den Sinn kommt, ist das Am-Rhyn-Haus. Es steht an bester Lage in der Altstadt, neben dem Rathaus, mit Blick auf die Reuss. Das Vorderhaus an der Furrengasse wurde zwischen 1616 und 1618 erbaut. Bewohnt wurde es zuerst von Schultheiss Walter am Rhyn (1570–1635), danach von dessen Nachfahren. Der Bau gehört zu den kunstgeschichtlich wichtigsten Profanbauten im Stil der Renaissance und ist als einziger in Luzern als Ganzes erhalten. Das reussseitige Hinterhaus wurde 1707 bis 1710 weitgehend neu erbaut und 1785/1786 im damals zeitgemässen Louis-XVI-Stil fast vollständig neu ausgestattet.

Das Gemälde mit dem originalen «Huerenaff» der Luzerner Safran-Zunft befindet sich im Innern des Freihofs Geissenstein. (Bild: PD)
10 Bilder
Peter am Rhyn vor dem Freihof Geissenstein. (Bild: Philipp Schmidli (Luzern, 18. Mai 2018))
Aussicht auf die Stadt vom Freihof aus. (Bild: Philipp Schmidli (Luzern, 18. Mai 2018))
Geissbock mit dem am Rhyn-Familienwappen an der Westfassade des Freihofs. (Bild: Philipp Schmidli (Luzern, 18. Mai 2018))
Die Familienwappen der noch heute aktiven (blühenden) ehemals regierenden Geschlechter von Luzern. (Bild: PD)
Kleines Gartenhäuschen. (Bild: PD)
«Fuciliere Budmiger», Symbolbild für die Söldner, die einst für die Luzerner Patrizier in den Krieg zogen. Das Bild ziert eine Türe im Freihof Geissenstein. (Bild: PD)
Der Freihof Geissenstein (links) auf einem Kupferstich um 1790. Hinten ist die Rigi zu sehen, rechts das Tribschengebiet. Perspektiven und Dimensionen auf der alten Ansicht sind nicht detailgetreu. (Bild: PD)
Das alte Schloss Geissenstein, das nach 1623 dem späteren Freihof Geissenstein weichen musste. (Bild: PD)
Der Freihof Geissenstein in den 1960er/1970er Jahren. Zu sehen ist die Nordfassade vom Geissensteinring aus.

Das Gemälde mit dem originalen «Huerenaff» der Luzerner Safran-Zunft befindet sich im Innern des Freihofs Geissenstein. (Bild: PD)

Das Am-Rhyn-Haus gehört seit 1946 der Stadt Luzern. Zwischenzeitlich, bis 2008, war hier das Picasso-Museum einquartiert. Zurzeit wird das Gebäude von der Stadt für rund 6 Millionen Franken saniert. Im Frühjahr 2019 soll es wieder bezugsbereit und danach teilweise öffentlich zugänglich sein. Ein Gebäude, das der Familie am Rhyn weiterhin gehört, ist der Freihof Geissenstein im Luzerner Sternmatt-Quartier, auch «Schlössli Geissenstein» genannt. Es ist nicht weniger repräsentativ als das Am-Rhyn-Haus, aber weit weniger bekannt. Inmitten einer grosszügigen Parkanlage thront es majestätisch, aber auch etwas geheimnisvoll über der Weinberglistrasse, in Sichtweite des Geissensteinschulhauses. Die Liegenschaft ist von einem Zaun umfriedet, der Zugang von der Elfenaustrasse her mit einem Eisentor abgeschlossen. Hier haben wir uns mit Peter am Rhyn verabredet, einem Nachkommen des alten Patriziergeschlechts.

Betonturm – wie eine Faust aufs Auge

Der 68-Jährige führt uns durch die Liegenschaft und erzählt von deren Geschichte. Das Landgut Geissenstein ist bis ins 14. Jahrhundert zurück belegt. Der Name stammt von den einst hier frei äsenden Ziegen. 1623 erwarb es Niklaus Schwytzer, ebenfalls ein Luzerner Patrizier. Er errichtete darauf einen Neubau. 1755/56 wurde der ungefähr quadratische Riegelbau in ein querrechteckiges Gebäude vergrössert. Damals wurden im Garten beidseits des Gebäudes zwei Rosskastanien gepflanzt. Eine von ihnen steht noch heute – sie überragt die Ostfassade des Hauses. Die zweite wurde 1992 von einem heftigen Sturm gefällt.

«Es war ein schlichtes Sommerhaus, in das sich meine Vorfahren in den heissen Sommermonaten aus der Stadt flüchteten.»
Peter am Rhyn

1806 gelangte der Freihof Geissenstein in den Besitz der Familie am Rhyn. «Es war nie ein Prunkbau», erzählt Peter am Rhyn, «sondern ein schlichtes Sommerhaus, in das meine Vorfahren in den heissen, stickigen Sommermonaten aus der Stadt flüchteten.» Wesentliche Renovationen fanden um 1830 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. 1941 schuf der Besitzer und Architekt August am Rhyn auch die beiden Gartenhäuschen und die Toranlage und gab damit dem Gebäude sein heutiges äusseres Erscheinungsbild. Wie das Gebäude einst innen aussah, davon zeugen nur noch einige alte Böden, Türen, Holzbalken und Täfer in den oberen Stockwerken. Ansonsten ist das Gebäude weitgehend ausgeräumt – abgesehen von ein paar alten Gemälden.

Nicht alle haben in die heutige Zeit überdauert

Die folgenden Luzerner Patrizierfamilien blühen auch heute noch (in Klammern zunächst die erste Erwähnung und dann der Regierungseintritt, gemäss Wikipedia):

– von Balthasar (1531, 1598)
– zur Gilgen (1428, 1475)
– Göldlin von Tiefenau (1387, 1655)
– von Hartmann (1424, 1671)
– Mayr von Baldegg (1452, 1517)
– Meyer von Schauensee (1468, 1581)
– Pfyffer von Altishofen (1322, 1509)
– am Rhyn (1518, 1564)
– Schnyder von Wartensee (1350, 1715)
– von Schumacher (1431, 1568)
– Schwytzer von Buonas (1527, 1633)
– Segesser von Brunegg (1241, 1564)
– von Sonnenberg (1357, 1480)

Die folgenden Luzerner Patrizierfamilien sind ausgestorben (in Klammern die erste Erwähnung, dann der Regierungseintritt und zuletzt das Todesjahr des letzten Erben):

– an der Allmend (1495, 1606, †1829)
– Bircher (1500, 1525, †1791)
– Cysat (1538, 1659, †1802)
– Dulliker (1522, 1564, †1820)
– Dürler (1570, 1633, †1847)
– Entlin (1522, 1640, †1822)
– Feer (1372, 1433, †1794)
– von Fleckenstein (1462, 1516, †1833)
– Haas (1373, 1423, †1796)
– von Hertenstein (1213, 1413, †1853)
– Keller, von Kellern (1584, 1677, †1865) 
– Krus (1483, 1565, †1805)
– Mohr (1436, 1521, †1913)
– Peyer im Hof (1300, 1730, †1842)
– von Rüttimann (1565, 1774, †1873)

Aussen, an der sonnigen Südfassade Richtung Park, sticht ein vor kurzem angebauter wuchtiger Betonturm mit zwei grossen Balkonen ins Auge. Er wirkt auf den ersten Blick wie eine Faust aufs Auge. Auch Peter am Rhyn ist darüber nicht glücklich. «Ich hätte es gern filigraner gehabt. Aber die Denkmalpflege hat es uns so aufgezwungen.» Im Betonturm eingebaut ist ein Treppenhaus. Es dient zur Erschliessung von zwei in den oberen Geschossen zeitgemäss eingerichteten 4,5-Zimmer-Wohnungen. Im Freihof Geissenstein ist damit attraktiver Wohnraum entstanden, an erhöhter Lage, mitten in einem Park, mit Blick auf grosse Teile der Stadt Luzern.

Die Vermarktung verlief aber nicht so einfach wie erhofft. Zwei von drei Wohnungen stehen zurzeit leer. «Wir überlegen uns eine neue Nutzung als Tagungsort oder Firmensitz; wir wollen nicht, dass die Liegenschaft an die Stadt geht», sagt am Rhyn. Spruchreif sei noch nichts. Früher, in den Glanzzeiten des Patriziats, umfasste der Freihof Geissenstein noch viel mehr. Heute ist auch der Unterhalt der reduzierten Liegenschaft viel zu teuer geworden. Ein grosser Teil davon war bereits vor einigen Jahren überbaut worden. Peter am Rhyn ist nicht Alleineigentümer. Er teilt sich die Liegenschaft mit seinen zwei Brüdern. Er hat auch nie selber dort gewohnt. 1984 ist er von Luzern weggezogen und erst vor zwei Jahren in die Stadt zurückgekehrt. Peter am Rhyns Vita ist bemerkenswert: ausgebildeter Chemiker, drei Nachdiplomstudien, CEO mehrerer Firmen. Viel reden darüber will er nicht – das ist der diskrete Charme der Patrizier, deren einstige Macht längst passé ist.

Rasen mähen, Waffen putzen

Dass er im riesigen Park seines Grossvaters einst den Rasen mähen musste, daran erinnert sich am Rhyn lebhaft: «Es war nicht meine Lieblingsbeschäftigung.» Auch dass er jeweils mittwochs mit einem seiner Brüder die von seinem Vater akribisch aufgebaute Ordonnanz-Waffensammlung putzen musste, ist ihm präsent. Die Waffen, darunter alte Hellebarden, sind inzwischen in den Beständen der Munitionsfabrik Thun gelandet. Auch sonst ist viel alter Bestand aus dem Freihof Geissenstein verschwunden. Geblieben ist im Foyer ein Gemälde, das einen Affen zeigt. «Es ist der originale Huerenaff der Luzerner Safran-Zunft», sagt am Rhyn stolz. Er verweist auf die wichtige Rolle der Zünfte in der Geschichte der Familie: «Mein Grossvater August gab dem Fritschibrunnen sein Design.»

Patrizier: Familienclans mit grosser politischer Macht

Im Ancien Régime (16. bis 18. Jahrhundert) monopolisierten einige wenige Geschlechter das politische Leben in den Stadtkantonen Bern, Freiburg, Genf, Luzern, Solothurn und Zürich. Nur wer einem dieser mächtigen Familienclans angehörte, durfte ein wichtiges politisches Amt bekleiden und etwa Schultheiss (Bürgermeister, Stadtpräsident) werden. Ihr Machtanspruch beruhte auf den Verdiensten ihrer ritterlichen «regimentsfähigen» Vorfahren, die nach der Schlacht bei Sempach 1386 Rechtsnachfolger der Habsburger wurden. In Luzern beschränkte sich das Patriziat auf etwa 30 regierungsfähige Familien. Einige der noch heute existierenden Patriziatsfamilien wurden zwischen 1442 und 1858 mit Adelsdiplomen ausgestattet – neben den am Rhyn etwa die Göldlin von Tiefenau, Mayr von Baldegg, Meyer von Schauensee, Pfyffer von Altishofen, Schumacher, Schwytzer von Buonas, Segesser von Brunegg und von Sonnenberg. Sie errichteten eine aristokratische Verfassung, die den Zugang anderer Familien zu den Regierungsämtern zunehmend verunmöglichte.

Die Familie Amrhyn spaltete sich im 18. Jahrhundert in drei Linien auf. Die erste Linie (Am Rhyn geschrieben) erbte das Am-Rhyn-Haus in Luzerns Altstadt und das Landgut Tribschen (mit dem Richard-Wagner-Haus). Diese ältere Linie stellte noch im 20. Jahrhundert einige liberale Grossräte in Luzern. Sie ist inzwischen ausgestorben, die beiden Liegenschaften gingen in den Besitz der Stadt Luzern über. Die zweite Linie (am Rhyn) ist die Geissenstein-Linie. Einer ihrer Vorfahren gelangte durch die Heirat mit einer Schwytzer-Buonas in den Besitz des Freihofs Geissenstein. Peter am Rhyn (siehe Haupttext) ist Nachfahre dieser Linie. Die dritte Linie (Amrhyn) erbte das Gehöft Buholz, den einst grössten Bauernhof von ganz Luzern. Sie besitzt heute noch das denkmalgeschützte Schloss Buholz in Ruswil.

Peter am Rhyn ist heute Präsident der Balenherren, auch Gesellschaft der Fischmeister genannt. Sie hat ihren Ursprung im 15. Jahrhundert. Ihre maximal 14 Mitglieder verwalten die aus der Seeallmende der Bürger der Stadt Luzern hervorgegangenen Fischenzen im Uferbereich des Vierwaldstättersees zwischen der Villa Stutz nach dem Schönbühl stadtauswärts sowie der Horwer Bucht. Der Gesellschaft gehören die ehemals regierenden Herren Luzerns an, erklärt Peter am Rhyn, «der Kern des Kerns von Luzern». Ein bisschen alte Patrizier-Herrlichkeit muss halt doch noch sein in Luzern.

Familien-Website: www.am-rhyn.ch