Ein Kirgise entdeckt die Luzerner Fasnacht

Wenn eine fremdländische Mentalität sich aktiv mit der Luzerner Fasnacht mischt: Ein spannender Erlebnisbericht.

Kairat Birimkulov
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Ich bin ein ehemaliger Fernsehjournalist aus Kirgisistan. Seit über zwölf Jahren wohne ich mit meiner Familie in Kriens. Erstmals tauchte ich 2008 in die Atmosphäre der Fasnacht ein und erlebte einen Kulturschock: Laute, wilde Fasnachtsumzüge brachen ins ruhige, gemessene Schweizer Leben ein. In der Agglomeration Luzern füllten sich die sonst wenig belebten Strassen mit Fasnachtswagen und jubelnden Bürgern in Kostümen und Masken. Mir eröffnete sich eine andere Schweiz.

Dieses Jahr habe ich mich entschieden, die Rolle zu wechseln: Aus dem Zuschauer sollte ein aktiver Fasnächtler werden. Ich mache in einer Gruppe mit. Ein sympathisches Team in Meggen hat mich willkommen geheissen: Die Wagenbaugruppe Schnipp Schnaps, die vor 20 Jahren vorwiegend von Jugendlichen gegründet wurde.

Von Anfang an bei den Vorbereitungen dabei

Ich bin von Anfang an bei den Vorbereitungen dabei, schon im Herbst. Sie könnten zusätzliche Hilfe bei der Herstellung der Masken und des Wagens aus Papiermaché gut gebrauchen, teilt mir die Gruppe mit. Das «Sujet», wie sie es nennen, sind dieses Jahr «Seedämonen». Die gemeinsame Herstellung dieser Fantasiefiguren macht mir grossen Spass. Wie damals im Gestaltungsunterricht als Schulbub in Kirgisistan habe ich wieder gemischt, geklebt, gemalt und geschnitten.

Die Scheune beim Bauernhaus am Meggenhorn wird mir zum Hobby-Ort. Zweimal pro Woche treffen wir uns. Vor meinen Augen werden die Gestalten geboren, die erstmals am Schmutzigen Donnerstag erscheinen würden. Alles, was das Team kreiert, besteht aus recycelten Materialien. Ein alter japanischer Subaru versinkt in der Ummantelung von Meeresriffen; ausser dem Lenkrad ist vom Auto nichts mehr erkennbar.

Zur Person

Kairat Birimkulov ist 52-jährig.Seine Heimat Kirgistan verliess er 2007 aus politischen Gründen. Birimkulov hat drei Töchter, eine davon ist in der Schweiz geboren. Er wohnt heute in Kriens und ist unter anderem Mitglied der Integrationskommission der Stadt Luzern und Mitarbeiter Soziale Dienste Asyl im Kanton Zug. Die Fotos auf dieser Seite stammen von Talal Doukmak. Der gebürtige Syrer lebt seit fünf Jahren in der Schweiz. Er ist Grafiker und auch als Fotograf und Kameramann tätig. Er hat mehrere Konferenzen gefilmt, unter anderem für die UNO. Doukmak lebt in Burgdorf. (hb)

Unerwartet zum Fahnenträger ernannt

Einige Tage vor der Fasnacht bietet mir Schnipp Schnaps an, ihr Team als Fahnenträger anzuführen. Das ist für mich – besonders vor dem Hintergrund der Mentalität des Landes, aus dem ich komme – unerwartet und eine grosse Ehre. Je näher das Hauptereignis heranrückt, umso aufgeregter werde ich. Und die Temperaturen stiegen eines Abends gar auf unglaubliche 17 Grad. In der Tradition der Vorfahren sollten mit dem Fasnachtstreiben die Kälte und Winterfröste vertrieben werden. Jahrhundertelang war das so. Und jetzt ist das Thema angesichts der grünen Bewegung zum Klimawandel sogar einer politischen Debatte würdig.

Das Wetter am Schmutzigen Donnerstag erfüllt seine Mission: ein wunderschöner sonniger Tag. Lufttemperatur 10 Grad. Ich trage einen schweren schwarzen Taucheranzug, den Wetterbedingungen nicht wirklich entsprechend. Auf meinem Kopf der grosse Grind: ein Seeritter mit Helm, auf der linken Seite durchlöchert. Bald schon fühle ich mich in dieser Rüstung als tapferer Krieger, der auf seinem dornigen Weg enormen Herausforderungen begegnet. In den Händen trage ich die nicht so leichte Fahne der Schnipp Schnaps.

Eine Stunde vor Beginn des Umzugs nehmen wir unsere Umzugsposition Nummer fünf ein. Ich weiss: Zehntausende Luzerner und Gäste warten auf uns. Tatsächlich erweist sich die Wartezeit für den Marsch als die aufregendste. In meinem Kopf blättere ich durch die Erinnerungen an die Art der Bewegung der Fahnenträger, die ich bei Umzügen schon gesehen habe.

Schweizer Pünktlichkeit und «Ladys first»

Der Beginn des Umzugs erfolgt wie üblich in der Schweiz sehr pünktlich. Vor uns steht eine Gruppe aus Horw, hinter uns eine aus Kriens. 300 Meter nach Umzugsbeginn platzt eine kleine weibliche Gruppe in den Umzug – die jungen Blondinen nutzen eine kleine Lücke vor uns aus. Als Fahnenträger der Gruppe muss ich ein Schritttempo halten und sofort entscheiden: «Ladys first». Ich weiss, dass während der Parade wilde Gruppen beitreten können, obwohl sie keine offizielle Nummer tragen, aber dafür kreative Masken und ein Sujet haben.

Schnipp Schnaps nimmt erstmals am Umzug in Luzern teil. Tausend begeisterte Kinderaugen, Hunderte von Video- und Kameraaugen und noch mehr Smartphone-Kameras von Erwachsenen begleiten uns während des Umzugs. Fernseh- und Radioreporter übertragen den Umzug live. Einer der Kameramänner nimmt meine komische Erscheinung von oben bis unten mit der Kamera auf.

Richtig herausfordernd wird es für mich in der Pilatusstrasse, wo Kinder absichtlich Konfetti in mein Helm-Loch werfen. Ich spüre erste Anzeichen eines Schweissausbruchs. Die Flagge, die ich mit grosser Begeisterung getragen habe und die ich als Ehre und Anerkennung des Teams wahrgenommen habe, würde ich jetzt gerne an jemand anderen übergeben. Aber das begeisterte Publikum motiviert mich und gibt mir Kraft, die Gedanken an Müdigkeit wieder zu vergessen. Ich bin auch dankbar, dass der Helm eine grossartige Kreation ist, die es mir ermöglicht, meinen emotionalen Zustand zu verstecken.

Zuletzt fragt mich das jüngste Schnipp-Schnaps-Mitglied Nando, «war es lustig?», und lacht. Seine Frage klingt so, dass ich ohne Zweifel lächeln darf. Mit meiner ganzen Seele respektiere ich alle Fasnächtler, die bereit sind, den Menschen Freude zu bereiten und mit viel Energie und Ernsthaftigkeit einen Teil ihrer Lebensenergie in die Bewahrung dieser einzigartigen volkstümlichen und religiösen Tradition investieren.