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An über 200 Personen wurden in der Psychiatrie St. Urban in den 1950er- und 1960er-Jahren Experimente mit Medikamenten durchgeführt. Nun wird der Kanton Luzern aktiv.
Niels Jost und Kilian Küttel
«Sie dürfen das Geschehene nicht totschweigen.» Diese klare Forderung stellt Barbara Callisaya, Leiterin der Patientenstelle Zentralschweiz, an den Kanton Luzern. Grund: Die Psychiatrische Klinik St. Urban hatte zwischen 1953 und 1963 an 208 Patienten nicht zugelassene Medikamente verabreicht – ohne dass diese davon wussten. Die Präparate wurden von der Pharmaindustrie kostenlos zur Verfügung gestellt, die Wirkung reichte von «schlafanstossend» bis hin zu einer «Kollapsneigung», wie «Schweiz aktuell» am Donnerstagabend berichtete.
Zum nun aufgedeckten Fall sagt Callisaya weiter: «Die kantonalen Behörden, die heute zuständig sind, können nichts für die Versäumnisse aus der Vergangenheit. Aber sie müssen heute hinstehen, klar Stellung beziehen und alles daran setzen, dass die Vergangenheit aufgearbeitet wird.» Dieser Forderung wird der Kanton Luzern nachkommen, wie Gesundheitsdirektor und Regierungspräsident Guido Graf auf Anfrage sagt: «Wir werden eine externe Person oder Institution mit der Überprüfung beauftragen.» Aktuell sei man dabei, andere Kantone anzugehen, in welchen damals auch solche klinische Tests durchgeführt wurden (siehe Kasten).
Graf weist darauf hin, dass die damaligen Experimente nicht verheimlicht wurden. So wurden die Versuche in verschiedenen Zeitschriften vom damaligen Psychiater in St. Urban, Walter Pöldinger, ausführlich beschrieben und öffentlich gemacht. Graf betont: «Sämtliche Medikamente werden an Menschen getestet, bevor sie definitiv zugelassen werden. Das war früher so, und dies ist auch heute noch so.» Ohne solche Tests dürfe man ein Medikament gar nicht zulassen. Einen zentralen Unterschied zur damaligen Praxis gibt es jedoch: «Heute benötigt man die Einwilligung einer Ethikkommission», so Graf. «Ausserdem muss der Patient ausführlich über den aktuellen Stand der Forschung sowie über allfällige Wirkungen und Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Erst dann dürfen solche Tests aufgrund der Einwilligung des Patienten durchgeführt werden.» Auf dieses sogenannte «informierte Einverständnis» verweist auch Paul Hoff von der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Er ergänzt: «In den 50er-Jahren gab es noch kein Gesetz, welches die Regeln für die Erforschung von Medikamenten am Menschen festhielt», sagt Hoff. «Deshalb will ich den damaligen Psychiatern in St. Urban kein falsches oder mutwillig böses Handeln unterstellen – auch wenn wir einzelne Elemente in deren Forschung aus heutiger Sicht vielleicht als falsch oder sogar gesetzeswidrig erachten.» Wichtig sei dennoch, dass diese Fälle nun erforscht werden, findet Hoff.