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Der Luzerner Polizeikommandant Adi Achermann und Kripo-Chef Daniel Bussmann standen am Donnerstag wegen fahrlässiger Tötung vor Kantonsgericht. Sollte es wieder zu einem Freispruch kommen, wird der Anwalt dem Sohn der Verstorbenen den Weiterzug empfehlen.
Warmes Wetter, das Luzerner Kantonsgericht als Schauplatz und zuversichtliche Angeklagte: Vieles gestern war gleich wie am 19. Juni 2017. Damals mussten sich Polizeikommandant Adi Achermann (54) und Kripo-Chef Daniel Bussmann (59) zum ersten Mal der juristischen Auseinandersetzung zum «Fall Malters» stellen. Beiden wurde und wird fahrlässige Tötung vorgeworfen, weil sich im Zuge einer misslungenen Hanf-Razzia in Malters am 8. und 9. März 2016 eine 65-jährige Frau das Leben nahm (siehe unten). Wegen des grossen Medieninteresses fand damals die Verhandlung des Bezirksgerichts Kriens im Saal des Luzerner Kantonsgerichts statt. Das Urteil – Freispruch – hatte der ausserordentlich eingesetzte Aargauer Staatsanwalt Christoph Rüedi akzeptiert. Der Sohn der verstorbenen Frau hatte hingegen via seinen Anwalt Oskar Gysler Berufung eingelegt (wir berichteten).
Anders als bei der Bezirksgerichtsverhandlung war es am Donnerstag im Saal nicht so heiss, dass sich die Protagonisten der Krawatte entledigen durften. Grund waren drei mobile Klimaanlagen, welche die fünf Kantonsrichter und der Leitung von Peter Arnold installieren liessen. Die Geräte erschwerten aber durch den Lärm das Zuhören.
Mit welcher Taktik ging Oskar Gysler, der Anwalt in Diensten des Hanfanlagenbetreibers und Sohnes der Verstorbenen, in die zweite Runde? Er zweifelte an, dass Kripo-Chef Bussmann, der ab dem zweiten Einsatztag um 6 Uhr morgens die Leitung übernahm, wirklich alle Varianten mit nötiger Sorgfalt überprüfte. Zu den Varianten gehörten zum Beispiel das weitere Verhandeln mit der Frau und ein Zuwarten, der Rückzug der Polizeikräfte oder das Beiziehen des Sohnes oder des früheren Anwalts der Frau. Um seine These zu untermauern, dass Bussmann gleich zu Beginn die Order zum Zugriff gegeben haben soll, zitierte Gysler gestern erstmals eine Passage aus dem Funkprotokoll. Demnach soll jemand aus der Interventionsgruppe schon um 9.35 Uhr gesagt haben: «Egal was passiert, der Zugriff wird um 11 stattfinden.» Wer diese Meldung gemacht hat, ist bis jetzt unklar. Im Protokoll wird der Absender mit «Code 24» angegeben. Rechtsanwalt Gysler stellte darum den Antrag, den Urheber zu eruieren und – zusammen mit dem Leiter der Interventionsgruppe – zu befragen. «Die Funkmeldung steht quer in der Landschaft», stellte Gysler fest.
Dieser Meinung waren auch die Anwälte von Adi Achermann und Daniel Bussmann. Beat Hess, Bussmanns Anwalt, sagte dazu: «Der Funkspruch widerspricht sämtlichen Aussagen und Protokollen.» Der Antrag sei dennoch unnötig. So habe Bussmann nach der Übernahme der Leitung die klare Weisung erteilt, die Verhandlungen mit dem Ziel, die Frau zum Aufgeben zu bringen, weiterzuführen. «Das ist auch mehrfach in den Akten vermerkt.» Gleichzeitig habe sich Bussmann mit Szenarien befassen müssen, falls die Verhandlungen nichts bringen. «Diese Szenarien erst dann zu planen, wenn es sie braucht, ist fahrlässig», so Hess. Bussmann selbst gab bei der Befragung zu Protokoll, dass er alle Varianten gründlich überprüft habe. Ein Hinzuziehen des Sohnes sei aufgrund dessen auffälligen Verhaltens in der Zürcher U-Haft und einer Empfehlung der dortigen Behörden «keine Option» gewesen. Den ehemaligen Anwalt der Frau habe er persönlich kontaktiert. Nachdem dieser Bussmann versichert habe, sich nach einem Gespräch mit der Frau wieder zu melden, habe er nichts mehr gehört.
Da die Telefonschaltung nicht auf ein Gespräch hinwies, ging Bussmann davon aus, dass das Gespräch zwischen dem Anwalt und der Frau nicht stattfand. «Erst im Nachhinein wurde klar, dass die Verhandlungsgruppe mir nichts über ein zweites Handy gesagt hat, welches die Frau gehabt hat», so Bussmann. Kantonsrichter Peter Arnold wollte von Bussmann genauer wissen, weshalb dieser nicht auf den Rat des Polizeipsychologen gehört habe: Warten. «Warten? Worauf?», erwiderte Bussmann. Der Psychologe habe nicht sagen können, ob sich die Frau dadurch ergeben werde. «Die Frau war unberechenbar und gefährlich.» Aber sie war auch urteilsfähig, solange weder die Staatsanwaltschaft noch der Sohn das Gegenteil beweisen können, wie die Anwälte der Polizeikader betonten. Nur wenn die Frau urteilsunfähig gewesen sei, könne der Polizei der Vorwurf gemacht werden, die Frau in den Tod getrieben zu haben.
Das Argument der Urteilsfähigkeit hatte auch das Bezirksgericht gestützt. Oskar Gysler war anderer Meinung. In einem privaten Gutachten, das er im Auftrag des Sohnes in Auftrag gegeben hatte, wurde ein psychotischer Schub während des Einsatzes für «wahrscheinlich» eingeschätzt, was für eine Urteilsunfähigkeit sprechen würde. Zudem kommt der Gutachter zum Schluss, dass ein Beizug des Sohnes oder des Anwalts erfolgsversprechender gewesen wären. Weil aber das Gutachten parteiisch ist, beantragte Gysler das Gericht, ein eigenes Gutachten in Auftrag zu geben. Das Gericht soll ausserdem die polizeilichen Abläufe jenes Einsatzes beleuchten lassen. Die Kantonsrichter werden diese Anträge nun prüfen. Davon abhängig ist auch der Zeitpunkt des Urteils, das schriftlich erfolgen wird. «Man kann so oder so entscheiden», stellte jedenfalls Christoph Rüedi fest. Der Aargauer Staatsanwalt wurde vom Kantonsgericht zur Verhandlung eingeladen, obwohl er das erstinstanzliche Urteil akzeptiert hat. Er liess durchblicken, dass er das eine oder andere Gutachten begrüssen würde. Unabhängig davon kündigte Oskar Gysler nach der Verhandlung an: «Bei einem Freispruch werde ich meinem Mandanten empfehlen, das Urteil ans Bundesgericht weiterzuziehen.» Bussmanns Anwalt Beat Hess ist derweil «sehr zuversichtlich», dass es zu einem Freispruch kommt.
Dienstag, 8. März 2016: Die Luzerner Polizei trifft in Malters ein, wo sie im Auftrag der Zürcher Kollegen eine Hausdurchsuchung durchführen soll. In der Wohnung wird eine Hanfanlage vermutet. Vor Ort treffen die Polizisten auf eine 65-jährige Frau. Sie ist die Mutter des mutmasslichen Betreibers der Hanfanlage. Sie ist bewaffnet, verweigert den Polizisten den Zutritt und droht, auf die Polizisten zu schiessen oder sich das Leben zu nehmen. Die Frau gibt auch einen Schuss ab; eine Verhandlungsgruppe nimmt mit ihr telefonischen Kontakt auf.
Mittwoch, 9. März 2016: Die Bemühungen, die Frau zum Aufgeben zu bewegen, bringen keinen Erfolg. Mehrfach droht sie, sich selbst etwas anzutun und von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, sollte gewaltsam in die Wohnung eingedrungen werden. Um 7.30 Uhr entscheidet sich die Einsatzleitung unter der Führung von Kripo-Chef Bussmann für eine Intervention. Die Frau soll mit Knallpetarden abgelenkt und von einem Hund überwältigt werden. Polizeikommandant Adi Achermann übernimmt explizit die Verantwortung. Um 12 Uhr erfolgt der Zugriff. Das Öffnen der Wohnungstür mit einer hydraulischen Presse läuft nicht nach Plan: Die Tür fällt darum zu früh auf. Das Ablenkungsfeuerwerk zündet zwar, und der Hund wird reingeschickt, doch zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Frau bereits im Badezimmer, richtet ihre Katze und dann sich selbst. Die Hanfanlage befindet sich in der oberen Etage der zweistöckigen Wohnung. Neben dem Revolver werden noch weitere Waffen gefunden. Zumindest der Revolver gehört dem Sohn.
Ende März 2016: Der Sohn der Verstorbenen zeigt die Einsatzleitung der Polizei an. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung und Amtsmissbrauch. Wegen Interessenkonflikten wird der Fall der Aargauer Staatsanwaltschaft übergeben.
September 2016: Sicherheitsdirektor Paul Winiker (SVP) verordnet, dass Achermann und Bussmann bis zum Abschluss des Strafverfahrens keine heiklen Einsätze mehr leiten dürfen, wird diese Verfügung aber Ende Juni 2017 wieder aufheben.
10. Januar 2017: Der ausserordentlich eingesetzte Aargauer Staatsanwalt Christoph Rüedi zeigt Achermann und Bussmann wegen fahrlässiger Tötung an.
19. Juni 2017: Die Polizeikader stehen vor dem erstinstanzlichen Gericht, dem Bezirksgericht Kriens; die Verhandlung findet wegen des grossen Interesses im Kantonsgericht statt.
27. Juni 2017: Das Bezirksgericht spricht die Polizisten frei. Später reichen sowohl der Staatsanwalt wie auch der Sohn Berufung gegen das Urteil ein. (red)