Der Verein Wikimedia CH hat in Luzern das 20-jährige Bestehen der Wikipedia gefeiert. Im deutschsprachigen Raum beteiligen sich rund 19'000 aktive Nutzer an der digitalen Enzyklopädie. Der Stadtluzerner Anton Meier alias «Netpilots» ist einer von ihnen.
Der Stadtluzerner Anton Meier stellt sich zunächst als «Netpilots» vor. Das ist sein Pseudonym auf der digitalen Enzyklopädie Wikipedia. «Bei uns Wikipedianern ist vor allem der Benutzername wichtig, von vielen kenne ich nicht einmal den Vornamen», erzählt Meier. «Wikipedianer»; das sind jene Personen, die für die Wikipedia Artikel verfassen, ergänzen und korrigieren.
«Viele glauben, dass wir vor allem am Computer sitzen», so Meier. Er gehöre aber zu jenen, die für Artikel auch draussen unterwegs seien. Denn Meier fotografiert auch – Zentralschweizer Persönlichkeiten oder Orte. So hat Meier unter anderem den Herzchirurgen Thierry Carrel und seine Frau, die SRF-Moderatorin Sabine Dahinden, fotografiert. Auch den ehemaligen Luzerner Fussballspieler Kudi Müller hat «Netpilots» abgelichtet – sowie den Künstler Rolf Winnewisser.
Als Autor schreibt «Netpilots» über alles Mögliche: etwa über die Mall of Switzerland, die Motorschiffe Diamant und Rütli oder das Luzerner Stadtoriginal Angy Burri, den er ebenfalls abgelichtet hat. Ein besonderes Interesse hat der 69-Jährige an naturwissenschaftlichen Themen. Auch das Wasser und die Luft haben es ihm angetan. Die Reuss bezeichnet «Netpilots» scherzhaft als sein Schwimmbad, früher war er Privatpilot – daher auch sein Pseudonym.
Sein zeitliches Engagement für die Wikipedia variiere stark, so Meier. Es gebe Ruhezeiten, aber auch intensive Phasen. Die Neuanlegung eines grösseren Artikels könne fünf bis zehn Stunden beanspruchen. Aber: «Ich zähle die Stunden nicht, für mich fühlt sich das nicht wie Arbeit an.» Fast 7100-mal hat «Netpilots» Wikipedia-Artikel bearbeitet; durchschnittlich einmal pro Tag, seit er sich angemeldet hat. Das war vor über 14 Jahren, als die Wikipedia noch wesentlich überschaubarer war. Heute gehört sie zu den bekanntesten Websites überhaupt. Die deutschsprachige Version wird von rund 19'000 aktiven Nutzerinnen und vor allem Nutzern gepflegt.
Da Wikipedianer vorwiegend anonym unterwegs sind, lässt sich über ihre Herkunft nur wenig sagen. Allerdings: Einige Zentralschweizer Autoren hat es am vergangenen Samstag ins Stadtluzerner Neubad gezogen. Dort nämlich hat der Verein Wikimedia CH (siehe Kasten) das 20-jährige Bestehen der Wikipedia gefeiert – und Schweizer Autoren geehrt, die sich um die Enzyklopädie verdient gemacht haben.
Die Server der Online-Enzyklopädie Wikipedia werden durch die Wikimedia Foundation mit Sitz in den USA betrieben. Wikimedia CH wurde 2006 als unabhängiger Verein gegründet, ist aber als offizielle Landesvertretung («Chapter») von der Foundation anerkannt. Gänzlich von öffentlichen Geldern unabhängig, finanziert sich der Verein ausschliesslich durch Spenden.
Ziel des Vereins ist es vor allem, die «Community» zu unterstützen, welche an Wikimedia-Projekten wie die Wikipedia, Wikimedia Commons oder Wikidata mitarbeiten. Weiter ist der Verein in den Bereichen Bildung (openEdu), GLAM (Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen) und Öffentlichkeitsarbeit (freies Wissen, offener Zugang zu digitalen Plattformen, Urheberrecht) aktiv.
Dabei hat der Verein keine Mühe gescheut; ein Teil der Veranstaltung wurde für die rund hundert Anwesenden auf Englisch, Deutsch und Französisch simultan übersetzt. Während die Preisverleihung mit launigen Anekdoten aus dem Wikipedia-Alltag gespickt war, ging es bei den Vorträgen politisch zu und her. So sagte Muriel Staub, die Präsidentin von Wikimedia Schweiz:
«Liebe Wikipedia, andere grosse Techgiganten können viel von dir lernen. Denn du bist radikal transparent und rennst nicht dem Gewinn hinterher.»
Staub ist es auch, die 2018 das Projekt «Frauen für Wikipedia» mitbegründet hat – mit dem Ziel, mehr Frauenbiografien in der Enzyklopädie unterzubringen. Diese sind in der Wikipedia bis anhin untervertreten. Unterstützt wird sie dabei von diversen Journalistinnen und Journalisten.
Tech-Journalist Hannes Grassegger bezeichnete die Wikipedia in Luzern als Gegenmodell zu den «kapitalgetriebenen sozialen Medien». Besonders die Tatsache, dass man jede einzelne Bearbeitung nachverfolgen könne, sei löblich. Im Raum standen aber auch Befürchtungen; vor allem jene, dass die Wikipedia künftig vermehrt zur «politischen Kampfzone» werden könnte. Als Beispiel wurde die Kontroverse um die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock genannt. Kürzlich wurde bekannt, dass Baerbock Teile ihres Lebenslaufes irreführend formuliert hatte. Die Frage, ob dies in Baerbocks Wikipedia-Artikel gehöre, sorgte unter den Wikipedianern für dicke Luft, wie die NZZ berichtete.
Im persönlichen Gespräch begeistern sich die Wikipedianer aber vor allem für eines: ihre Themen. Diese sind sehr breit gefächert. Das geht über die Technik (Was ist der Unterschied zwischen «QLED» und «OLED»?), Geschichte (Wer war der Freiheitskämpfer Tadeusz Kościuszko?), Kunst (Welche Werke stammen vom impressionistischen Maler Camille Pissarro?) bis hin zu Kuriosem. Ein User erinnert sich an den schrägsten Artikel, den er angelegt hat: Er drehe sich um die Schauspielerin Ute Sander, die in einem einzigen Film mitgespielt habe, nämlich in «Otto – Der neue Film». Die Begeisterung fürs Recherchieren war den anwesenden Autoren – die meisten von ihnen männlich – anzusehen. So sagte ein Autor:
«In der Wikipedia parkiere ich mein Wissen, sodass ich es später selber wiederfinde.»
Anton Meier macht bei Wikipedia mit, weil sie «einfach eine gute Sache» sei. Er wolle nicht nur von der Website profitieren, sondern auch seinen Teil zu ihr beitragen. «Da jeder User andere Interessen und Schwerpunkte hat, decken wir gemeinsam ein grosses Wissensgebiet ab», so Meier. Auch ein gewisser Stolz treibe ihn an. «Was ich schreibe, lesen Tausende. Das ist schon ein gutes Gefühl.» Die 10'000 Bearbeitungen, die für eine Ehrung durch die Wikimedia Schweiz nötig sind, hat «Netpilots» noch nicht erreicht. Aber wenn er so weiter macht, reicht es beim nächsten Jubiläum sicherlich zum Diplom.