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Zentralschweiz
Luzern
Eine Frau wird von ihrem Mann jahrelang geschlagen. Irgendwann flüchtet sie und erwirkt ein Kontaktverbot – um das er sich nicht schert. Als sie sich bei einer erneuten «Zufallsbegegnung» zur Wehr setzt, zeigt er sie an. Kurze Zeit später flattert ein Strafbefehl ins Haus.
«Ich kann das alles einfach nicht glauben. Ich habe immer gedacht, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem Opfer geschützt werden. Dass ich stattdessen verurteilt wurde, hat mich in meinen Grundfesten erschüttert.» Die Frau spricht mit ruhiger, aber fester Stimme. Da ist keine Wut auszumachen in den Worten, die sie an den Bezirksrichter richtet. Aber viel Resignation.
Vor Gericht steht sie, weil sie auf ihren Noch-Ehemann eingeschlagen und ihn mit dem Tod bedroht haben soll. Der Mann hatte sie und ihre Kinder jahrelang misshandelt. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie war ins Frauenhaus geflohen und erwirkte ein Kontaktverbot. Daran hielt der Mann sich aber nicht. Immer wieder tauchte er «wie zufällig» aus dem Nichts auf. So auch an jenem Tag, als die Frau mit ihren Kindern gerade auf dem Weg zum Spielplatz war.
Als sie ihn sah, kroch in der Frau die nackte Panik hoch. «Er hatte schon gedroht, meine Kinder nach Ägypten zu entführen. Ich hatte nur eines im Kopf: sie möglichst rasch in Sicherheit zu bringen», erzählt die Frau. Sie habe einen Schlüssel in die Hand genommen, um den Ex auf Distanz zu halten. Doch der Schlüssel sei zu Boden gefallen. «Da stand ich ohne etwas vor ihm. Ich fühle mich ihm völlig ausgeliefert.» Aus dem Augenwinkel habe sie Passanten an der Strasse gesehen. Im Selbstverteidigungskurs habe sie gelernt, dass es nichts bringe um Hilfe zu rufen, man müsse etwas Prägnantes schreien. «Ich habe geschrien: ‹Du Kinderschänder! Hau ab!› In der Hoffnung dass jemand kommt und mir hilft.» Eine Frau wurde auf die Situation aufmerksam. Der Mann zog sich zurück. Und erstattete kurz darauf Anzeige bei der Polizei.
Die Staatsanwaltschaft verzichtete darauf, die unbeteiligte Frau zu vernehmen, die nach der akuten Situation dazu gestossen war. Sie vernahm nur die Beschuldigte, den Ehemann und dessen Freundin – und kam zum Schluss, dass sich Erstere der Tätlichkeit, Beschimpfung und Drohung schuldig gemacht hatte. Die Frau wurde per Strafbefehl zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse von 350 Franken verurteilt. Sie erhob Einsprache.
Die Familiengeschichte habe die Staatsanwaltschaft völlig ausgeblendet. Diese ist äusserst tragisch, wie die Schweizerin, die vor Jahren zum Islam konvertierte, nun vor Gericht erzählt. Ihr Mann sei drogensüchtig gewesen und habe sie massiv geschlagen.
Auch er wurde wegen dieser Tätlichkeiten zu einer Geldstrafe verurteilt – das Ausmass der Gewalt sei aber ein anderes gewesen. Sie habe überall blaue Flecken gehabt. Sie und ihre Kinder seien traumatisiert, besonders der Sohn, der vom Vater missbraucht worden sei. Nachdem sie ausgezog, habe ihr Noch-Ehemann sie nicht in Ruhe gelassen und mehrfach gegen das Kontaktverbot verstossen. Konsequenzen habe das trotz Anzeigen keine gehabt. Grund: Gegen den Mann läuft ein Verfahren wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch des Sohnes. Die Staatsanwaltschaft entschied, die Anzeigen wegen Verstössen gegen das Kontaktverbot nicht sofort zu behandeln, sondern sie mit dem laufenden Verfahren zu vereinigen. Mit der Konsequenz, dass der Mann erst zur Verantwortung gezogen wird, wenn auch die Untersuchung wegen Missbrauchs abgeschlossen ist – was nun schon Jahre dauert.
Bei der letzten Begegnung habe sie daher keine andere Möglichkeit gesehen, als sich zu wehren, sagt die Frau. «Diese Schutzreaktion ist absolut angemessen, wenn man die Vorgeschichte kennt», findet die Verteidigerin.
Das Bezirksgericht kommt denn auch zu einer anderen Einschätzung als die Staatsanwaltschaft. Es sei nicht bewiesen, dass die Frau ihrem Noch-Ehemann beschimpfte und drohte, ihn umzubringen. Was die Tätlichkeiten angeht, sei die Frau – die aufgrund der häuslichen Gewalt an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet – als schuldunfähig zu erachten. Sie wird freigesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.