LUZERN: Altersheimbewohner bewegen sich an «digitaler Leine»

Altersheime setzen zunehmend auf Hightech, um orientierungslose Bewohner am «Ausreissen» zu hindern. Kommen bald Pflegeroboter?

Alexander von Däniken
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Mit diesem uhrenähnlichen Gerät werden die Bewohner falls nötig überwacht. (Bild: PD)

Mit diesem uhrenähnlichen Gerät werden die Bewohner falls nötig überwacht. (Bild: PD)

Einsperren oder ständig beobachten: Vor einigen Jahren hatten die Alters- und Betagtenzentren keine andere Möglichkeit, demente und orientierungslose Bewohner von ungewollten Ausflügen abzuhalten. Beide Varianten waren nicht ideal. Das Abschliessen von Räumen oder Hausteilen kann die persönliche Freiheit der Bewohner stark einschränken. Und das ständige Beobachten ist sehr personalintensiv. Immer mehr Heime setzen darum auf Technik.

Ein System funktioniert wie folgt: Ein dementer Bewohner will von der Cafeteria hinaus in den Garten. Dort darf er aber nicht hin. Als er in die Nähe des Ausgangs und einer dort installierten unsichtbaren Schranke kommt, schickt ein uhrenähnliches Gerät, das der Bewohner an seinem Handgelenk trägt, einen stummen Alarm an eine Zentrale und aufs Diensthandy des Personals. In Sekundenschnelle weiss das Personal, wer wo den Alarm ausgelöst hat, und kann rasch reagieren. Das System funktioniert bei allen orientierungslosen Bewohnern und kann auf deren individuellen Bewegungsraum abgestimmt werden: Bei einigen gibt es schon im Nachbarhaus Alarm, bei anderen erst an der Grundstücksgrenze.

Das System nennt sich Pre-Watch und ist zum Beispiel im Luzerner Betagtenzentrum Rosenberg im Einsatz, wie die Schweizer Ausgabe der «Zeit» jüngst berichtete. Pflegeleiterin Heidi Tomasini findet das System sehr nützlich: «Die Bewegungsfreiheit der betroffenen Bewohner ist weniger eingeschränkt als früher, und auch für das Personal ist das System eine Entlastung.» Diskussionen, ob der Bewohner in den Garten darf, erübrigen sich, und das Personal könne die Bewohner auch mit einem guten Gewissen aus dem Haus gehen lassen.

Allerdings sei die Pre-Watch kein Freipass für das Personal, sich zurückzulehnen: «Wenn ein Alarm ausgelöst wird, müssen wir schnell reagieren. Ausserdem kann es passieren, dass der Bewohner bereits einen Bus bestiegen hat.» Derzeit tragen im Rosenberg zehn Bewohner eine Pre-Watch.

200 Heime nutzen System

Erfunden hat die Pre-Watch ein Luzerner: Willi Schmidiger, Gründer der gleichnamigen, auf Funktechnik spezialisierten Firma in Menzberg. «Ein Kunde hat mich Ende der 1990er-Jahre auf die Idee gebracht», sagt Schmidiger. «Die Pre-Watch wird schweizweit sehr geschätzt und ist vor allem in den Heimen der Region Luzern sehr verbreitet.» Rund 200 Heime sind mit seiner Erfindung seit 2001 schon ausgestattet worden.

Marktführer ist Schmidigers Firma trotzdem nicht; weil die Vermarktung zwischenzeitlich ins Stocken geraten war, drängten andere Unternehmen auf den Markt, deren Produkte noch etwas ausgereifter waren. Trotzdem steht Schmidiger hinter der Pre-Watch. «Sie entlastet das Pflegepersonal, dank der Funktechnik gibt es keinen Kabelsalat, und die Uhrenattrappe stört die Bewohner nicht.» Es drängt sich ein Vergleich auf mit den elektronischen Fussfesseln für Straftäter. Schmidiger wiegelt ab: «Der grösste Unterschied ist, dass die Fussfesseln die Personen von Unheil an anderen abhalten sollen. Die Pre-Watch schützt aber den Träger selbst.»

Kontrolle via GPS möglich

Stellt Schmidiger auch Schwächen fest? Nicht an der Pre-Watch an sich, sondern an den Entwicklungsschritten: «Früher war man noch zufrieden, als man die Tür und den Parkzugang abschliessen konnte. Heutzutage will man immer genauer wissen, wo sich welcher Bewohner befindet.» Tatsächlich sind Geräte anderer Anbieter auf dem Markt, die es dem Personal erlauben, über GPS jederzeit zu kontrollieren, wo sich welcher Bewohner befindet.

Roboter servieren Getränke

Diesen Trend konstatiert auch Altersforscher François Höpflinger: «Die ersten Heime setzen bereits auf Technik, die es ihnen erlaubt, demente Bewohner auch ausserhalb des Heimareals bis zum Bahnhof zu überwachen.» In Zukunft werden laut Höpflinger auch Pflegeroboter eingesetzt, die zum Beispiel an heissen Tagen durch den Heimpark fahren und Getränke anbieten oder bettlägerige Bewohner regelmässig umlagern, um Druckstellen zu vermeiden.

Heidi Tomasini muss über diesen Trend schmunzeln: «Aufhalten lässt sich die Entwicklung nicht. Aber Roboter können die menschliche Pflege nie ersetzen. Und mit jeder Neuerung stellt sich die Frage, ob sie moralisch und ethisch vertretbar ist.»

«Polemik fehl am Platz»

Altersforscher Höpflinger rät zu einer nüchternen Betrachtung der technischen Entwicklung: «Polemische Diskussionen über die Menschenwürde sind fehl am Platz. Bewohner einsperren – das ist viel menschenunwürdiger, als ihnen einen unsichtbaren Freiraum zu gewähren.» Wichtig sei, dass die Heime jede technische Neuerung den Angehörigen vorstellen und diese um Erlaubnis bitten, wenn ein Gerät für den Bewohner Sinn mache. Auch auf das Personal gelte es Rücksicht zu nehmen: «Denn die moderne Technik erlaubt auch eine genauere Kontrolle der Pflegefachleute.»

Generell sei der technische Fortschritt für die Alterspflege nützlich. Derzeit ersetze die Technik zwar noch keine Mitarbeiter, aber das sei nur noch eine Frage der Zeit – und auch notwendig: «Die Menschen werden immer älter und pflegebedürftiger. Darum braucht es immer mehr Pflegepersonal.»

Das Bundesamt für Statistik schätzt, dass der Anteil der über 65-Jährigen an der Schweizer Bevölkerung von derzeit 17 auf 24 Prozent im Jahr 2030 steigt. Bis dahin wird sich laut Höpflinger auch die Zahl der über 65-jährigen Pflegebedürftigen um 46 Prozent auf rund 182 000 Personen erhöhen.