Verfrühte Aufgebote des Strassenverkehrsamts zur medizinischen Kontrolle sorgen bei Senioren für rote Köpfe. Ein Fall für das Gericht, sagt ein Staatsrechtsprofessor.
Charly Keiser
Verschickt das Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern verfrüht Aufgebote für die verkehrsmedizinischen Untersuche? Nein, findet Amtsleiter Peter Kiser. Er denkt darum auch nicht daran, die gängige Luzerner Praxis zu ändern. (Ausgabe vom 24. September). Der Passus im eidgenössischen Strassenverkehrsgesetz scheint allerdings unmissverständlich: «Die kantonale Behörde bietet Personen ab dem vollendeten 70. Altersjahr alle zwei Jahre zu einer vertrauensärztlichen Untersuchung auf.» Für den Geschäftsführer der TCS-Sektion Waldstätte, Alex Mathis, ist die Aufgebotspraxis ein Fall von behördlichem Übereifer: «Es gibt keinen Grund, die Senioren nicht erst ab ihrem 70. Geburtstag aufzubieten. Denn dafür hätte man problemlos zwölf Monate Zeit.».
Der renommierte Staatsrechtsprofessor Rainer J. Schweizer von der Universität St. Gallen sagt denn auch: «Der Gesetzestext ist eindeutig, und die Verwaltung sollte sich daran halten.» Dies vorausgesetzt, dass keine anderen Vorfälle eine frühere Untersuchung rechtfertigen würden, ergänzt der Staatsrechtsexperte und fügt an: «Zum Beispiel, wenn ein Senior mit einer unsicheren oder gefährlichen Fahrweise entsprechend aufgefallen ist.»
Alles andere als klar ist der Fall hingegen für Andreas Glaser, Staatsrechtsprofessor von der Uni Zürich: «Das frühe Aufgebot kann als Verwaltungserleichterung betrachtet werden.» Er erklärt: «Man müsste in die Botschaft schauen, um den Zweck des Gesetzes und was die Parteien damit erreichen wollten, in Erfahrung zu bringen.» Es sei gut möglich, dass es genau das Ziel gewesen sei, dass alle Senioren bereits vor dem Erreichen des 70. Altersjahres untersucht sein sollten. «Oder aber es überwog die Idee, dass sich die Senioren erst nach ihrem runden Geburtstag untersuchen lassen müssen.» Klarheit schaffe darum erst ein Gerichtsentscheid, so Glaser. «Diesen würde wohl das Verwaltungsgericht nach einer entsprechenden Beschwerde fällen.»
Seit unsere Zeitung am vergangenen Donnerstag über die Aufgebotspraxis berichtet hat, sind zahlreiche Reaktionen eingegangen. Insbesondere werden die Aussagen des Strassenverkehrsamtes angezweifelt, wonach die Aufgebote «rund zwei Monate» vor dem 70. Geburtstag verschickt würden.
So schreibt ein Leser: Er habe grundsätzlich nichts gegen die Untersuchung. «Was mich jedoch stört, ist die Frist, die die Amtsstelle setzt» – und nennt seine Daten: 70. Geburtstag am 23. Januar 2016, Datum des Aufgebots: 7. September 2015, also 138 Tage vorher. Die Frist von zwei Monaten zur Erledigung bis 7. November liege damit 77 Tage vor seinem Geburtstag.
Ein weiterer Senior empört sich ebenfalls und widerspricht der Aussage von Amtsleiter Peter Kiser betreffend der zwei Monate. Er habe ein Aufgebot zum Arzttermin fast fünf Monate vor seinem Geburtstag erhalten. «Zu vollziehen innerhalb von zwei Monaten ab Briefdatum, ansonsten Einleitung des Ausweis-Entzugsverfahrens. Das entspricht doch eher nicht den Aussagen Ihres Interviewpartners vom Strassenverkehrsamt», rechnet er vor und fragt rhetorisch: «Ich möchte dem Computer nichts Böses unterstellen. Aber wenn ich das nächste Mal den Brief schon zehn Monate vor meinem Geburtstag erhalte und darin eine zweimonatige Frist aufgeführt ist, was mache ich dann?»
Ein weiterer Senior fragt, ob die verfrüht eingeforderte Untersuchung im unvollendeten 70. Altersjahr überhaupt gültig sei? «Denn ergibt die Gesetzesauslegung, dass erst ab dem vollendeten 70. Altersjahr geprüft werden darf, wäre dann mein ärztlicher Test nicht ungültig und im Fall eines Ausweisentzuges anfechtbar?» Rechtsprofessor Andreas Glaser beruhigt: «Das Strassenverkehrsamt muss diese Untersuchungen als gültig erachten, da es diese selber angeordnet hat. Alles andere widerspräche dem Grundsatz von Treu und Glauben.»
Auch das Strassenverkehrsamt des Kantons Zug verschickt die Aufgebote zu früh, wie sich zeigt. Die Senioren werden nämlich 90 Tage vor dem 70. Geburtstag erstmals zum Untersuch aufgeboten, sagt Patrik Brunner, Bereichsleiter Recht. Beklagen sich auch Zuger Senioren über die frühen Briefe? «Bei den vielen erstmaligen Aufforderungen zur ärztlichen Untersuchung erhalten wir fast keine negativen Rückmeldungen», sagt Brunner und fügt an: «Es kommt in sehr wenigen Einzelfällen vor, dass die Betroffenen die Fristen in Frage stellen.» Bis zu ihrem Geburtstag haben die Zuger dann Zeit, die geforderte Bestätigung beizubringen. «Liegt das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung bis dann nicht vor, fordern wir die Person auf, das Untersuchungsergebnis nachzureichen.»
Keinen Einfluss hat hingegen die Software des Strassenverkehrsamtes. Denn dies könnte man annehmen, weil Zug und Luzern das gleiche Programm benutzen. Brunner erklärt: «Die Kantone sind frei, die Fristen für die Untersuchung und den Zeitpunkt selber festzulegen, wann sie die entsprechenden Einladungsschreiben verschicken.»
Dass es auch anders geht, beweisen die anderen Zentralschweizer Kantone. «Wir verschicken einmal pro Woche Aufgebote an die, die 70 Jahre und älter sind», erklärt Werner Fässler vom Verkehrsamt des Kantons Schwyz. «So ist gewährleistet, dass kein Kunde vor seinem Geburtstag ein Aufgebot bekommt.»
Auch in den Kantonen Ob- und Nidwalden wird darauf geachtet, dass die Senioren nicht zu früh mit dem Aufgebot «verärgert» werden. «Wir warten nach dem Geburtsdatum rund eine Woche ab, bevor wir den Brief mit dem Aufgebot zum verkehrsmedizinischen Untersuch verschicken», sagt Cyrill Omlin, Chef des Verkehrssicherheitszentrums Obwalden/Nidwalden. «Wir halten uns an den Gesetzesartikel und belästigen unsere Kunden nicht mit frühen Aufgeboten. Darum haben wir auch keinerlei Klagen.»
Und auch in Uri lässt man sich mit dem Versand der Aufgebote Zeit. Bernhard Schuler, Abteilungsleiter Massnahmen/Bewilligungen, erklärt: «Wir verschicken die Aufgebote jeweils ein paar Tage nach dem 70. Geburtstag.»