Chefarzt Karel Kraan (65) ist nach 21 Jahren Engagement für die Luzerner Psychiatrie in den Ruhestand getreten. Weil er auch als Pensionär nicht untätig bleiben will, könnte sein grösster Verdienst bald in Moldawien Nachahmer finden.
Evelyne Fischer
evelyne.fischer@luzernerzeitung.ch
Die besten Lösungen werden manchmal aus der Not geboren. Da macht ein Meilenstein in der Karriere von Karel Kraan keine Ausnahme: Der Chefarzt der Luzerner Psychiatrie (Lups) hat 2007 die gemeindeintegrierte Akutbehandlung ins Leben gerufen. Hinter dem sperrigen Namen versteckt sich ein Pilotprojekt: Ein ambulantes Ärzteteam besucht Patienten aus der Stadt und Agglo Luzern mit Depressionen oder Suizidgedanken zu Hause, statt sie in einer Klinik zu behandeln.
Der Auslöser? Ein Platzproblem. «Die stationären Betten waren stets überbelegt, wir mussten Patienten in ausserkantonalen psychiatrischen Kliniken unterbringen», so Kraan. «Zudem fehlte für einen Ausbau in Luzern das Geld. Gott sei Dank, kann man sagen. Denn so mussten wir nach Alternativen Ausschau halten.»
Mittlerweile sind die mobilen Teams im ganzen Kanton im Einsatz. Kranke Familienmitglieder daheim behalten zu können, sei für Angehörige ein Mehrwert, sagt Kraan. «Aber sie brauchen Sicherheit. Das ambulante Team muss rund um die Uhr erreichbar sein. Und notfalls muss auf ein Klinikbett zurückgegriffen werden können.» Laut Kraan ist das Daheim in vielen Situationen für den Lernprozess besser geeignet als eine Klinik. «Im Fokus der Behandlung steht der Umgang mit einer Krankheit. Heilung ist in der Psychiatrie ein grosses Wort.» Ein Betroffener müsse lernen, selber Medikamente einzunehmen, in Krisen richtig zu reagieren.
Per Ende August hat Chefarzt Karel Kraan die Leitung der ambulanten Dienste an Kerstin Gabriel Felleiter übergeben. Nach 21 Jahren Tätigkeit für die Luzerner Psychiatrie. Diese in der Grundversorgung zu positionieren, war ihm ein Anliegen. «Die Schwelle muss möglichst niedrig sein, denn psychische Krankheiten sind noch immer mit einem Stigma behaftet.» Mit der Eröffnung des Hochdorfer Ambulatoriums, das jene von Luzern, Wolhusen und Sursee ergänzte, erreichte Kraan das Ziel, dass ambulante Dienste von überall her binnen einer halben Stunde mit dem ÖV erreichbar sind.
Beim Besuch an einem der letzten Arbeitstage empfängt Kraan in seinem Büro in Luzern. In der Ecke steht ein Saxofon, auf dunklen Regalen sind Tonfiguren aufgereiht. Souvenirs aus Brasilien, wo er geboren wurde. Aus Amerika und Holland, wo er später lebte. So verästelt das Muster auf seinem Hemd ist, so weit verzweigt sind Kraans Kontakte. «Es war mir stets ein Anliegen, eng mit unseren Partnern zusammenzuarbeiten.» Sei es mit den Hausärzten, mit Sozialarbeitern oder der Staatsanwaltschaft. Er half mit, das Bild des isolierten Psychiaters mit der Sigmund-Freud-Couch zu entstauben und den Austausch zu fördern: So bieten die Ambulatorien in Hochdorf, Sursee und Wolhusen heute nebst der Erwachsenenpsychiatrie auch eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche. «Denn meist braucht es zur Problemlösung das ganze Umfeld.»
Trotz Pension geht Kraans Engagement weiter – in Moldawien. Zusammen mit holländischen Ärzten will er dort als Vertreter der Lups die psychiatrische Versorgung stärken. Ein Projekt, das seit 2013 von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit mit 6,05 Millionen Franken finanziert wird. «Bis 2018 steht die Finanzierung. Es wäre toll, wenn das Projekt Support für vier weitere Jahre erhalten würde», sagt Karel Kraan. Das Ziel ist es, vier gemeindepsychiatrische Zentren einzurichten und mobile Teams auszubilden.
Moldawien gilt als Armenhaus Europas. «Das Land ist sehr zerrissen», sagt Kraan. «Ich habe in drei Jahren vier Minister erlebt. Wer etwas erreichen will, braucht Beziehungen zu den richtigen Leuten.» Das Gesundheitswesen hat Reformen nötig. Von elektronischen Patientendossiers kann man hier nur träumen. «Ein Datenaustausch fehlt komplett.» Durch die Abwanderung mangelt es an Psychiatern und Pflegefachpersonen. Im Rahmen des Projekts wurden nun 18 Fachkräfte ausgebildet mit dem Ziel, ihr Wissen vor Ort weiterzugeben.
Der Weg zu einer besseren psychiatrischen Versorgung ist mit Stolpersteinen gepflastert: Die Strassen sind in einem erbärmlichen Zustand, und um sie benützen zu können, fehlen Ambulatorien die Fahrzeuge. Hausärzte dürfen keine Medikamente mit antipsychotischer Wirkung verschreiben, Polizisten greifen in Eskalationssituationen mit psychisch Kranken nicht ein. Erfolgsversprechende Voraussetzungen sehen anders aus. Ist Moldawien der richtige Abschluss seiner Karriere? Kraan überlegt lange. «Die Lage vor Ort hat schon etwas sehr Bedrückendes», sagt er. «Gewisse Dinge werden einschlafen, da mache ich mir keine Illusionen.» Trotzdem müsse man versuchen, mit den wenigen Ressourcen etwas Sinnvolles zu erreichen. «Wir haben viele junge Leute ausgebildet, das stimmt mich zuversichtlich.» Wohl auch weil er weiss: Aus der Not wurden schon andernorts gute Lösungen geboren.