Seit Anfang Jahr wird die Betreuung von Behinderten leistungsorientiert abgegolten. Das System sei aber nicht praxistauglich, sagen die Heime. Trotzdem will es die Regierung im Gesetz festschreiben.
Der Kanton Luzern tüftelt derzeit an einem neuen Abgeltungssystem für soziale Einrichtungen. Seit Anfang Jahr werden Leistungen im stationären Bereich Wohnen und Tagesstruktur für Erwachsene mit Behinderungen nicht mehr pauschal, sondern leistungsorientiert abgegolten. Die Institutionen müssen dabei den individuellen Betreuungsbedarf (IBB) erfassen. Damit sollen Leistungen transparent und zwischen den Institutionen vergleichbar werden.
Obwohl die Organisationen schon gut fünf Monate mit dem System arbeiten, wird die gesetzliche Grundlage erst noch geschaffen. Dies mit der Teilrevision des Gesetzes über soziale Einrichtungen (Ausgabe vom 28. Dezember). Eine Umfrage unserer Zeitung zeigt: Mit dem System sind viele Organisationen unzufrieden. Es führe zu grossem administrativen Mehraufwand, weil jede Leistung separat erfasst, mit Punkten versehen und fünf Stufen zugeordnet und abgegolten werden muss. «Diese Vereinfachung macht das System ungenau und somit auch undurchsichtig», sagt etwa Luitgardis Sonderegger-Müller. Die Direktorin der Stiftung Rotdegg fügt an:
«Das IBB-System ist nicht realitätsnah und widerspiegelt auch nicht die tatsächlich erbrachten Leistungen.»
So werde zwar erfasst, wie häufig jemand zum Beispiel geduscht oder beim Essen unterstützt wird, aber nicht, wie lange dies dauert. «Es ist doch ein grosser Unterschied, ob eine Betreuungsperson dafür zehn oder 50 Minuten aufwenden muss», so Sonderegger. Daher sei es auch nicht möglich, die erbrachten Leistungen der unterschiedlichen Institutionen miteinander zu vergleichen.
Auch die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) hat gewisse Vorbehalte, was die Vergleichbarkeit betrifft. Zwar begrüsst sie die leistungsorientierte Abgeltung grundsätzlich. Allerdings müsse dieses flexibler definiert werden, um etwa Sonderfälle besser abdecken zu können, so Direktor Pius Bernet:
«Zur besseren Kostengenauigkeit müsste der Kanton den Mut haben, das System zu verfeinern, das heisst, Ausnahmen und höhere sowie tiefere Sonderstufen zuzulassen.»
Bedenken hat auch Bruno Ruegge. Der Geschäftsleiter der Stiftung Contenti in Luzern merkt an, dass der IBB defizitorientiert sei – also die Aufmerksamkeit auf die Schwächen der Personen lenkt, nicht auf deren Stärken. «Das widerspricht dem formulierten Ziel von Ermächtigung und Teilhabe.» Zudem stehe die Einführung des IBB-Systems im stationären Bereich im Widerspruch dazu, dass der Kanton gleichzeitig ambulante Angebote fördern möchte. Denn in diesem Bereich gilt die Subjektfinanzierung. «Somit gibt es weiterhin unterschiedliche Finanzierungsarten», so Ruegge.
Dasselbe kritisiert Martina Bosshart, Geschäftsleiterin von Pro Infirmis Luzern, Ob- und Nidwalden. Sie begrüsst zwar die generelle Stossrichtung der Gesetzesrevision, da der Kanton mehr Selbstbestimmung und Wahlfreiheit ermöglichen sowie ambulante Angebote fördern will. Vor diesem Hintergrund sei es aber «unverständlich», wieso die Regierung jetzt noch auf ein System setze, welches nur für den stationären Bereich konzipiert ist. Für eine regional breit gestreute, gemeindeintegrierte Angebotsvielfalt müsse vielmehr die Durchlässigkeit zwischen den ambulanten und stationären Angeboten verbessert werden.
Gemeint ist damit, dass Personen mit Behinderungen darauf angewiesen sind, zwischen ambulanten und stationären Angeboten hin und her wechseln zu können, wenn zum Beispiel pflegende Angehörige ausfallen. Dies bleibe nun wegen der unterschiedlichen Finanzierungsmodelle aber weiterhin kompliziert, etwa was die Abrechnung betrifft. Bosshart:
«Wir hätten erwartet, dass der Kanton Luzern unter Einbezug aller Akteure direkt ein zukunftsfähiges Bedarfsabklärungs- und Finanzierungssystem für alle Betroffenen gewählt entwickelt hätte.»
Sie plädiert daher für eine «konsequente, unbürokratische Subjektfinanzierung und die individuelle Bedarfserhebung aller Leistungsbezüger durch eine unabhängige Abklärungsstelle». Eine solche Stelle kennt Luzern nicht. Sie könne aber aufzeigen, welche ambulanten und stationären Angebote in Frage kommen.
Nicht alle sozialen Einrichtungen teilen diese kritische Haltung gegenüber dem IBB. Die Einführung dieses Systems hält Martin Schelker, Geschäftsleiter bei Novizonte, für «sehr pragmatisch». «Klar ist die Einstufung mit einem gewissen Zusatzaufwand verbunden», sagt er, «doch für unsere Institution mit 45 Plätzen hält er sich in Grenzen.»
Der Regierungsrat erhofft sich vom IBB ein einheitlicheres Leistungs- und Kostenrechnungssystem, das Vergleiche zwischen den Institutionen zulässt. Auch sollen die Leistungen dank des IBB besser dokumentiert werden können. Mit anderen Worten: Der Kanton möchte sicherstellen, dass er nur jene Leistungen zahlt, die er auch bestellt.
Entwickelt wurde der IBB von den Ostschweizer Kantonen und Zürich, verwendet wird er auch in anderen Deutschschweizer Kantonen. Wegen der erwähnten Mängel sind in einigen Kantonen allerdings Bestrebungen in Gange, das System bereits wieder zu wechseln. Im Rahmen der Vernehmlassung zur Gesetzesteilrevision sind beim Luzerner Gesundheits- und Sozialdepartement über 100 Stellungnahmen eingegangen, wie Departementssekretär Erwin Roos auf Anfrage sagt. Inwiefern diese berücksichtigt werden, wird sich noch vor den Sommerferien zeigen: Dann wird der Regierungsrat die definitive Botschaft verabschieden. Der Kantonsrat berät das Gesetz voraussichtlich im September.