Interview
Präsident des Kantonsgerichts Andreas Galli über Anwälte, seine Ambitionen und weshalb Richter in Luzern einer Partei angehören

Kantonsgerichtspräsident Andreas Galli sieht selten Staatsanwälte und Verteidiger. In seinem Bereich wird vieles schriftlich abgehandelt. Im Interview erklärt er seine Faszination für das Verwaltungsrecht.

Roger Rüegger
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Kantonsgerichtspräsident Andreas Galli an seinem Arbeitsort.

Kantonsgerichtspräsident Andreas Galli an seinem Arbeitsort.

Bild: Patrick Hürlimann (Luzern, 24.3.2020)

Wann haben Sie als Richter einen guten Job gemacht?

Andreas Galli: Meine Meinung erstaunt Sie vielleicht ein Stück weit. Ich denke, wenn ein Richter mit den zerstrittenen Parteien eine Lösung findet, hat er seine Aufgabe gut gemacht. Also wenn Kläger und Beklagter den Saal verlassen und sich beide eingestehen: «Ja, ich musste etwas von mir geben, aber ich habe auch einen Teil gewonnen, aber der Streit ist beigelegt.»

Das ist ein mögliches Szenario in der 4. Abteilung des Kantonsgerichts, wo Sie tätig sind. Was ist Ihr Gebiet?

Das Verwaltungsrecht. Dieses umfasst 23 Rechtsgebiete. Die erstrecken sich von Sozialhilfe, Steuern, Baurecht, Ausländerrecht bis hin zur Bewilligung einer Kita. Ich bearbeite Bau- und Planungsrecht.

Klingt nicht prickelnd. Sie sehen das wohl anders?

Ja, mir liegt dieses Gebiet. Im Verwaltungsrecht kann anstelle eines Urteils oft eine Lösung gefunden werden. Mein Berufswunsch war früher Architekt. Weil sich meine naturwissenschaftliche Begabung in Grenzen hielt, entschied ich mich dagegen. Architektur und Bauen interessieren mich jedoch sehr.

Reizt Sie Strafrecht gar nicht?

Zu Beginn des Studiums fand ich das schon interessant. Inzwischen finde ich es spannender, wenn zwei Personen Streit haben oder Bürger mit dem Staat im Clinch liegen. Es geht nicht mehr um «Sex and Crime», aber es stellen sich andere Fragen.

Also ein Alltag ohne Staatsanwälte und Verteidiger?

Das Verwaltungsrecht wird zu 90 Prozent schriftlich bearbeitet. Verhandlungen finden kaum statt. Als Bezirksrichter jedoch hatte ich schon mit Staatsanwälten und Verteidigern zu tun.

Diese Parteivertreter, die versuchen das Gericht mit flammenden Reden zu beeinflussen, sind unterhaltsam. Lassen sich Richter von Plädoyers beeinflussen?

Manchmal hätte ich mir gewünscht, die Reden wären flammender. Vertreter, die dem Gericht vortragen, warum ihre Mandanten recht haben, gehören dazu. Doch am Ende zählen nur die Fakten. Der Einfluss ist sehr gering. Auch ein Top-Anwalt kann keinen aussichtslosen Fall gewinnen. Aber ein schlechter kann einen Fall mit Erfolgsaussichten zugrunde richten.

Gab es an den vier Bezirksgerichten, an denen Sie als Richter tätig waren, einen Fall, der Ihnen nahe ging?

Eine Geschichte, die sich über Jahre hinzog, war ein Streit über die Haftung eines Arztes. Eine Person hatte gegen den Mediziner geklagt, weil sie glaubte, er habe im Beruf versagt. Mit der Versicherung, die den Doktor vertreten hatte, und der Klägerin, wurde eine Lösung gefunden, die alle zufriedenstellte.

Ganz wie Sie es mögen: eine Lösung statt eines Urteils.

Was ich persönlich immer als die bessere Option erachte.

Urteile sind ja anfechtbar. Nehmen Sie es persönlich, wenn ein Bundesrichter ein Urteil von Ihnen revidiert?

Unsere Entscheidungen können an das Bundesgericht gezogen werden und es kann sein, dass die höhere Instanz zu einem anderen Schluss kommt, ein Urteil aufhebt oder zur Neubeurteilung zurückschickt. Ein wichtiges Element des Rechtsstaates.

Geht Ihnen das ans Ego?

Ich kann akzeptieren, wenn die Bundesrichter einen Sachverhalt anders beurteilen und vielleicht Elemente anders gewichten. Wenn das Bundesgericht meint, dass wir falsch geurteilt haben, ist die Sachlage anders. Dann geht es mir immer noch nicht ans Ego, aber dann müssen wir die Sache analysieren, in uns gehen und Lehren daraus ziehen. Das nehme ich sportlich.

Gutes Stichwort. Halten Sie den Kopf mit Sport frei?

Ja. Jeden Mittag setze ich mir einen grossen Kopfhörer auf und trainiere in einem Fitnesscenter. Ich schalte dabei völlig ab.

Das Fitnesstraining fällt derzeit aus, auch Ihr Berufsalltag verändert sich. Es gibt kaum Verhandlungen, Delikte aber werden weiter verübt. Werden bald Prozesse per Livestream durchgeführt?

Es werden Szenarios diskutiert. Streaming ist eines, eine Möglichkeit wäre auch, Gerichtsräume baulich anzupassen. Das Coronavirus schränkt uns sehr ein. So arbeiten viele Angestellte zu Hause.

Zur Person

Andreas Galli übernahm am 1. Juni 2019 das Präsidium des Luzerner Kantonsgerichts. Der 1975 in Willisau geborene Galli hat das Primarlehrerpatent erworben, bevor er Rechtswissenschaften in Basel studierte. Er schloss mit der Promotion zum Dr. iur. und dem aargauischen Fürsprecherpatent ab. Er war Richter an allen Bezirksgerichten des Kantons Luzern. 2015 wurde er Kantonsrichter. Aktuell unterrichtet er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. (rgr)

Umstritten ist, dass Richter einer Partei angehören müssen. Wieso ist das so?

Im Kanton Luzern ist es Tradition. Grösstenteils läuft in der Schweiz die Rekrutierung der Richter über Parteien. Das wird teilweise stark kritisiert, auch von internationalen Organisation. Vielleicht wird jener gewählt, der am besten vernetzt ist und seine Aufgaben innerhalb der Partei immer wahrgenommen hat. Vielleicht wurde mit ihm nicht der Beste gewählt. Es stellt sich die Frage: Wer ist der Beste? Der mit den besten Noten an der Uni?

Sagen Sie es uns.

Schwierig. Ich finde, das System ist nicht so falsch, obwohl es Unzulänglichkeiten hat. Im Kanton Luzern wird ein Richterposten ausgeschrieben mit der Partei, bei der man sich melden soll. Die Richter sollen ein Spiegel des Kantonsparlaments sein.

Sind Sie in einer Partei, weil dies als Richter nötig ist?

Nein, Politik interessiert mich. Lange bevor ich Richter wurde, trat ich der CVP bei, weil mir die Mitte zusagt.

Sie werden als umgänglicher Typ beschrieben. Wie wirkt sich diese Eigenschaft auf Ihren Beruf aus?

Umgänglich bin ich vielleicht in dem Sinn, als dass ich jeden Menschen respektiere, egal welche soziale Stellung er innehat. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht klar meine Meinung habe und bereit bin, diese durchzusetzen. Es gibt Leute, die verwechseln das und glauben, weil ich ein netter Typ bin, kann man alles von mir haben. Ich trete als Richter jeder Partei mit Respekt gegenüber, egal wer was angestellt hat. Das Urteil fälle ich anhand der Fakten.

Welchen Mehraufwand hat der Gerichtspräsident?

Ich wirke noch zu 30 Prozent als Richter bei Urteilsfindungen. Als Präsident vertrete ich das Gericht gegen aussen und leite es administrativ. Eine völlig andere Aufgabe. Das strategische Vorgehen macht Spass, obwohl ich Richter mit Herzblut bin.

Sie sind auch Dozent an der Universität. Was ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Punkt, den man bei der Ausbildung von Juristen verbessern könnte?

Wir müssen Juristen davor bewahren, dass sie ein Gärtchendenken entwickeln. Die Bologna-Reform mit Bachelor- und Masterstudiengängen hat leider dazu geführt, dass die Leute Vorlesungen besuchen, Prüfungen ablegen, hervorragende Noten erzielen, danach aber wieder alles vergessen. Aber in der Praxis kommt ein Klient nicht mit einem erbrechtlichen Fall, sondern mit einer Lebensgeschichte und einem Problem. Der Klient schildert das Problem, das vielleicht erb-, arbeits- oder sozialrechtliche Aspekte hat. Der Anwalt muss dies erkennen können, um angemessen helfen zu können.

Haben Sie Ambitionen als Bundesrichter?

Ich habe noch 20 Berufsjahre vor mir. Es kann durchaus sein, dass ich mich weiterentwickeln will. Ich verneine nicht, schon darüber nachgedacht zu haben. Im Moment ist dieser Gedanke aber nicht wahnsinnig präsent. Man kann dies ohnehin nicht direkt ansteuern. Es braucht Glück und man muss im richtigen Moment mit der richtigen Partei und dem richtigen Geschlecht aus dem richtigen Kanton kommen.