Das Suizidpräventionsprojekt der Luzerner Psychiatrie ist einjährig. Aus diesem Anlass erklärt Projektleiter Michael Durrer, wie Suizidgedanken entstehen und gibt Ratschläge, wie Angehörige Betroffenen helfen können.
«Über psychische Probleme zu reden, wird immer salonfähiger», sagt Michael Durrer von der Luzerner Psychiatrie. Ein Grund dafür sei die Pandemie, welche die Menschen dazu veranlasste, mehr ehrliche Gespräche übers seelische Befinden zu führen. Auch in den Medien wurden die psychische Gesundheit und insbesondere das Thema Suizidalität öfter behandelt als noch vor Corona. Eine positive Entwicklung – doch laut Durrer braucht es noch mehr. So müsste es etwa zum Normalfall gehören, eine Person, die in einer Krise steckt, nach Suizidgedanken zu fragen.
Herr Durrer, wie entstehen Suizidgedanken?
Michael Durrer: Die Gründe für Sinn- und Lebenskrisen sind vielfältig. Beim einen ist es erst so weit, wenn er aus der Wohnung geworfen wird, ihn seine Partnerin verlässt und er seinen Job verliert. Beim anderen reicht es, wenn er die Kündigung bekommt – hier ist das Klischee der Mann, der wenig Gefühlszugang zu sich selbst hat und das alte Rollenbild des Familienernährers und Felsen in der Brandung verkörpert. Die meisten Leute mit Suizidgedanken gehen durch einen längeren Prozess hindurch, bevor sie sich wirklich etwas antun.
Welche Phasen gibt es?
Die erste Stufe nennen Fachleute Erwägungsphase. Es treten erste Gedanken auf, dass es vielleicht besser wäre, tot zu sein. Die Betroffenen entwickeln eine Vorstellung von einer Welt ohne sie. Wenn diese Entlastung verspricht, kommt es typischerweise in einer zweiten Phase zu starkem Ambivalenzerleben zwischen selbstzerstörerischen und selbsterhaltenden Gedanken. Vor allem in dieser Phase werden, sofern überhaupt, Suizidankündigungen oder -drohungen gemacht, die unbedingt ernst genommen werden sollten. In einer fortgeschritteneren Stufe kommt es meist zur Gedankeneinengung. Da kreisen diese nur noch um den Suizid und alles, was vorher wichtig war, verliert an Wertigkeit. Der Klassiker: Plötzlich wird das Hobby vernachlässigt oder gar nicht mehr ausgeübt. Stellt man bei einem seiner Nächsten eine solche Verhaltensänderung fest, sollten die Alarmglocken schrillen.
Das Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 oder www.143.ch ist rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da. Das Angebot dieser niederschwelligen Anlaufstelle für emotionale Erste Hilfe ist kostenlos und anonym. Es kann per Telefon, E-Mail oder Chat Hilfe gesucht werden – am einfachsten ist der Einstieg über www.143.ch.
Das Beratungstelefon der Luzerner Psychiatrie ist rund um die Uhr für Direktbetroffene von psychischen Erkrankungen sowie deren Angehörige unter 0900 85 65 65 erreichbar.
Hinterbliebene nach Suizid können sich an den Verein Refugium wenden: www.verein-refugium.ch
Auch Pro Mente Sana bietet kostenlose Beratung für Betroffene, deren Angehörige und Nahestehende sowie weitere Bezugspersonen an.
Natürlich kann man sich auch vertrauensvoll an seine Hausärztin oder seinen Hausarzt wenden.
Gibt es noch weitere Anzeichen dafür, dass eine Person kurz vor dem Suizid steht?
Typisch ist auch, dass die Person anfängt, ihre Habseligkeiten oder Geld zu verschenken oder beginnt, noch offene Sachen zu regeln. Das Paradoxe ist: Hat jemand erst einmal den Entscheid gefällt, sich das Leben zu nehmen und ganz konkrete Suizidpläne geschmiedet, haben Aussenstehende oft das Gefühl, es gehe ihm oder ihr besser. Das rührt daher, dass Betroffene im Suizid die scheinbare «Lösung» für all ihre gegenwärtigen Probleme gefunden haben, denn bald ist ja «alles» vorbei. Sobald eine Person mit dem Leben abgeschlossen hat, ist es für Dritte ganz schwierig, noch Einfluss zu nehmen.
Eine Person auf Suizidgedanken anzusprechen, fällt vielen schwer. Oft auch wegen der Angst, die Situation so nur zu verschlimmern.
Diese Annahme ist weit verbreitet. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Die meisten Betroffenen sagen, es führe zu einer Entlastung.
Woher kommt diese Angst dann?
Vom Unwissen. Wie so oft gilt: Das Benennen von Risiken ist der erste Schritt zur Risikominderung. In diesem Fall ist es das Wissen darüber, wie Suizidgedanken entstehen können, was in den betreffenden Personen vor sich geht und wie lange eigentlich der Entscheidungsprozess braucht. Was auch viele Leute vergessen, ist, dass Gedanken keine Handlungen sind und auch zu keinen führen müssen. Die wenigsten Personen, die Suizidgedanken haben, suizidieren sich auch.
Also liegt das Problem darin, dass Aussenstehende sofort vom Schlimmsten ausgehen.
Ein zentrales Problem dürfte sein, dass psychisch Angeschlagene, die vielleicht noch Suizidgedanken geäussert haben, mitunter als instabil oder unberechenbar wahrgenommen werden. Das verunsichert und aus Sorge, irgendwas falsch zu machen, vermeidet man lieber nachzufragen. Es ist aber eben enorm wichtig, dass man Suizidgedanken von Beginn an ernst nimmt und auch darüber redet.
Wann ist denn der richtige Zeitpunkt, um jemanden darauf anzusprechen?
Dann, wenn man merkt, dass sich jemand in einer Krise befindet. Egal, in was für einer.
Und wie äussert man seine Sorgen am besten?
Aus der eigenen Fürsorge heraus. Man könnte etwa sagen: «Ich merke, dass es dir überhaupt nicht gut geht und mache mir Sorgen. Ich frage mich, ob du schon mal mit dem Gedanken gespielt hast, dass du nicht mehr leben willst?»
Mit dem Ziel, Suizide und Suizidversuche zu reduzieren, lancierte die Luzerner Psychiatrie vor einem Jahr das Projekt «Suizidprävention Einheitlich Regional Organisiert» (Sero). Bis 2024 werden vier Massnahmen umgesetzt. Nebst der Etablierung einer neuen Visualisierungsmethode zur Risikoerkennung, dem Einsatz eines Sicherheitsplans und der Entwicklung einer Selbstmanagement-App für suizidgefährdete Personen gehören auch die Erste-Hilfe-Kurse zu Gesprächen über Suizidgedanken. Letztere können Personen aus Luzern, Ob- und Nidwalden seit Herbst 2021 vergünstigt besuchen. Weitere Informationen dazu gibt es unter www.sero-suizidprävention.ch.
Selbst wenn die ehrliche Antwort «Ja» wäre, behält es das Gegenüber vielleicht für sich.
Voraussetzung für solch eine Konversation ist natürlich immer eine Vertrauensbasis. Aber es kann schon sein, dass es für die betroffene Person gerade der falsche Zeitpunkt war. Hinterlässt das Ganze ein schlechtes Bauchgefühl, kann man zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nachhaken. Am besten wieder aus der eigenen Betroffenheit heraus, das zeigt Menschlichkeit und Anteilnahme. Zum Beispiel: «Unser Gespräch gestern ist mir nochmals durch den Kopf gegangen. Dein ‹Nein› kam so schnell, wollen wir uns nochmals treffen? Ich bin für dich da, wenn es dir nicht gut geht.»
Für einen selbst kann das sehr belastend sein, auch wenn man dieses Angebot ernst meint.
Hier sind zwei Sachen wichtig: Man sollte sich selbst nicht überschätzen und sich im Klaren darüber sein, dass man keine Verantwortung über eine andere Person und ihr Leben hat. Es geht auch nicht darum, nach einem Gespräch die Nonplusultra-Lösung zu präsentieren.
Sondern?
Eine gute Freundin oder ein guter Freund zu sein. Heisst: Zuhören, da sein, nicht verurteilen und professionelle Hilfe vermitteln. Bei suizidalen Phasen geht es auch darum, Zeit zu überbrücken und die betroffene Person währenddessen nicht allein zu lassen.
Ist professionelle Hilfe zu holen immer angezeigt?
Ja. Das kann bei der Luzerner Psychiatrie, der Dargebotenen Hand, Pro Mente Sana oder auch bei der Hausärztin oder dem Hausarzt sein. Am besten ist es, wenn die betroffene Person selbst zum Hörer greift, dies stärkt die Selbstverantwortung. Eine Vertrauensperson kann sie dabei unterstützen.
Kann man als Bezugsperson auch zu viel machen?
In Aktionismus zu verfallen, ist wenig förderlich. Jemandem in einer suizidalen Phase zu sagen, er dürfe die Wohnung jetzt nicht mehr verlassen und müsse 24/7 bei einem bleiben, ist nicht der richtige Weg. Für Laien ist es aber oft schwierig abzuschätzen, was angebracht ist. Auch darum ist es wichtig, rasch professionelle Hilfe zu holen. Aber dennoch gilt: Im Notfall besser zu viel als zu wenig machen. Schliesslich steht vielleicht ein Leben auf dem Spiel.
Was sind weitere No-Gos?
Probleme zu bagatellisieren. Sätze wie «Es kommt schon gut» oder «Warum tust du denn so schwierig, du hast doch alles im Leben!» sind kontraproduktiv. Was sich auch nicht empfiehlt, ist, noch weitere Probleme aufzubringen und damit die Misere der Gesamtsituation zu betonen. Also wenn jemand den Job verloren hat, etwa zu sagen «Ojee, und dabei hast du doch so viele Schulden». Das grösste No-Go ist aber wahrscheinlich, gar nichts zu tun.
Zur Person
Ein Gespräch mit einer (potenziell) suizidgefährdeten Person kann herausfordernd sein. Diese Tipps können helfen:
Vor dem Gespräch: Suchen Sie das Gespräch, wenn Sie sich selbst gut fühlen und die Kraft haben, auch schwierige Dinge zu hören. Rechnen Sie genügend Zeit für das Gespräch ein und sorgen Sie dafür, dass sie dabei ungestört bleiben und sich beide wohlfühlen.
Mögliche Gesprächseinstiege: Es ist wichtig, das Thema Suizid explizit anzusprechen. Nur so können Sie angemessen reagieren und Ihr Gegenüber weiss, dass es mit Ihnen offen über dieses Thema sprechen kann. Das können Sie zum Beispiel sagen: «Du hast in letzter Zeit Dinge geäussert und getan, die mich besorgen. Ich habe manchmal Angst, du könntest dir etwas antun. Das besorgt mich und ist mir nicht egal», «Hast du schon einmal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen?», «Ist dein Kummer manchmal so gross, dass du am liebsten nicht mehr leben möchtest?» oder «Tauchen bei dir manchmal Gedanken an Suizid auf?»
Wenn Sie unsicher sind, können Sie auch zuerst das allgemeine Befinden ansprechen. Etwa mit «Ich mache mir Sorgen um dich, du wirkst in letzter Zeit sehr bedrückt» oder «Ich habe das Gefühl, dir geht es nicht gut im Moment. Magst du heute oder ein andermal mit mir darüber sprechen?»
Nach geäusserten Suizidgedanken: Erzählt das Gegenüber von seinen Suizidgedanken, löst das meist Angst und grosse Betroffenheit aus. Dieses Verhalten ist hilfreich: Ruhig bleiben, einfach zuhören, Aussagen ernst nehmen, nur so viel Unterstützung anbieten, wie man wirklich bieten kann, auf Fachleute hinweisen und Erfahrenes nur so weit als möglich vertraulich behandeln. Wächst Ihnen das Thema über den Kopf oder sehen Sie akute Gefahr, ist es wichtig, sich an Dritte zu wenden.
Was Sie vermeiden sollten: Moralischen Druck aufbauen mit Aussagen wie «Stell dir vor, was das für deine Kinder bedeutet», Ratschläge und schnelle Lösungen (können dazu führen, dass Betroffene das Gefühl haben, man habe ihnen nicht richtig zugehört), panisch reagieren, Dinge schönreden, von den eigenen Problemen sprechen, Diagnosen stellen, das Gegenüber zum Erzählen zu drängen.
Weitere Infos gibt es hier.