Sie entflohen der Sowjet-Tyrannei und fanden in der Schweiz ein zweites zu Hause. Vor 65 Jahren ist die Estnische Gesellschaft der Schweiz in Kastanienbaum gegründet worden. Dort wurde jetzt ein Zeichen gesetzt.
Es ist 1944 und die Welt brennt. Der Zweite Weltkrieg geht in seine Endphase, tobt aber noch immer in aller Brutalität. Die Schweiz verharrt im Auge des Sturms. Rund zweitausend Kilometer entfernt, in Estland, bietet sich ein ganz anderes Szenario. Unter massivem Druck wurde Estland 1940 Teil der Sowjetunion (siehe Kasten unten). Umgehend begannen Massendeportationen von Esten, besonders aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum, in Richtung Sibirien. 1941 folgte der Überfall der deutschen Truppen.
So kam es, dass das kleine Land 1944 buchstäblich zwischen den Fronten stand: Auf beiden Seiten kämpften Esten – meist direkt gegeneinander. Das Resultat war eine Massenflucht. Zehntausende flohen in den Folgejahren und mit der erneuten Machtübernahme durch die Sowjetunion in Richtung Westen. Viele nach Schweden, wo die Exilregierung ihren Sitz hatte. Manche zog es aber auch in die Schweiz. Darunter auch ein begnadeter Sportschütze namens Vladimir Kukk.
Kukk, Mitglied der estnischen Herrenmannschaft, die 1937 mit dem Gewehr den Weltmeistertitel in vier Kategorien holte, kam 1946 in die Schweiz. Hier machte er umgehend andere Esten ausfindig und organisierte erste Treffen mit seinen Landsleuten in einer Villa in Kastanienbaum. 1953 wurde Kukk Mitbegründer und erster Präsident der Estnischen Gesellschaft der Schweiz.
«Die ersten Jahre waren von einer Vorsicht geprägt, nicht aufzufallen, da man Vergeltungen durch die Sowjetunion fürchtete», sagt Mirjam Loertscher, heutige Präsidentin der Gesellschaft. «Damals ging es natürlich vor allem um den Austausch von Informationen über die Entwicklungen im Heimatland», erklärt sie. «Dank des Roten Kreuzes konnte beispielsweise ein limitierter Briefwechsel mit Angehörigen, die nach Sibirien deportiert worden waren, aufgebaut werden.»
Das eigentliche Ziel des Vereins war aber damals wie heute dasselbe: das Weitergeben der estnischen Kultur. Loertscher geht davon aus, dass heute rund 500 Estinnen und Esten in der Schweiz leben. Bei der Vereinsgründung waren es lediglich gegen 70 Personen. Sie selbst kam als Austauschstudentin erst im Jahr 2000 nach Winterthur. Dort liess Sie sich beruflich wie auch privat nieder und lebt heute noch dort. «In Estland komme ich übrigens auch aus einer Bergregion», verrät Loertscher mit einem Schmunzeln. Konkret stammt die zweifache Mutter aus der Region Rõuge im Süden Estlands. In unmittelbarer Nähe befindet sich der Suur Munamägi (Grosser Eierberg). Mit stolzen 318 Metern über Meer, die höchste Erhebung des Baltikums.
Dieses Jahr haben die Esten Grund zum Feiern – die Schweizer Esten sogar gleich doppelt: Die ursprüngliche Unabhängigkeitserklärung jährt sich zum hundertsten Mal; die Gründung der Estnischen Gesellschaft der Schweiz zum 65. Mal. «Im Rahmen dieser beiden Jubiläen möchten wir der Schweiz etwas zurückgeben», erklärt Loertscher. «Wir Esten sind, genau wie die Schweizer, ein sehr naturverbundenes Volk. Entsprechend ist auch unser Jubiläums-Projekt naturbezogen.»
Entstanden sind 100 Nistkästen – speziell auf zwei bedrohte Vogelarten ausgelegt. Es sind dies der Gartenrotschwanz und der Wendehals. Die Auswahl der Vögel hat Symbolcharakter: «Ähnlich, wie es nur wenig Esten gibt – die Einwohnerzahl Estlands beträgt rund 1,3 Millionen – sind auch diese Vogelarten rar.» Wie die Schweiz einst für viele Esten zur sicheren neuen Heimat wurde, möchte man den hiesigen bedrohten Vogelarten auf diese Weise ein neues Zuhause bieten. «Nachdem in Estland ein TV-Beitrag über das Projekt ausgestrahlt wurde, sind wir geradezu überrannt mit Anfragen von potenziellen Gönnern worden», erzählt Loertscher.
Gefertigt wurden die Nistkästen von einem aus Estland stammenden Schreiner aus der Region Genf. In Zusammenarbeit mit dem Naturschutzverband Birdlife wurden die Nistkästen im Verlauf des Jahres in den Grenzregionen bei Basel und im Tessin installiert – dort wo die beiden Vogelarten am häufigsten anzutreffen sind. Einen Nistkasten sparte man sich jedoch noch für dieses Wochenende auf. Er wurde am Samstag im Birrholz bei Kastanienbaum installiert. «Es freut uns sehr, dass wir auch hier, bei den Wurzeln der Estnischen Gesellschaft der Schweiz, einen solchen Nistkasten platzieren dürfen», so Loertscher.
Am Samstag mit dabei war, nebst weiteren Mitgliedern der Gesellschaft und Vertretern von Birdlife, auch Maret Bader-Kukk, die Tochter des Gründervaters. Sie lebt mittlerweile im zürcherischen Wädenswil. Nach der Installation des Nistkastens begab sich die Gruppe in die Stadt. Genauer zum Hotel Continental im Zentrum Luzerns. Dort wurde vor 65 Jahren die Gründung des Vereins offiziell vollzogen.
Bleibt die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der neuen und der alten Heimat. Loertschers Antworten fallen für Schweizer Ohren einigermassen überraschend aus: «Die Schweizer sind viel kommunikativer und besser im Small-Talk als die Esten. Diese neigen stärker zur ‹höflichen Reserviertheit›.» Klar, die Schweiz punktet in Sachen Schokolade, auch wenn Estland durchaus eine Pralinen-Kultur pflege. Der Kartoffel sei man hingegen genauso zugetan, wie es in der hiesigen Küche üblich ist. Und was die zuvor erwähnte Reserviertheit betrifft, sagt Loertscher: «Ein gemeinsamer Gang in die Sauna ist Pflicht, um diese zu überwinden. Dort tauen wir Esten auf.»
1918, im Nachgang des 1. Weltkrieges und dem damit verbundenen dem Zerfall vieler europäischer Monarchien, riefen zahlreiche Staaten ihre Unabhängigkeit aus oder wurden neu gegründet. Dazu gehörten auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Die baltischen Staaten wurden im Verlaufe des 2. Weltkrieges in den 1940er-Jahre Teil der Sowjetunion. 1991, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, erlangten Estland, Lettland und Litauen erneut ihre Eigenständigkeit.
Hinweis: Infos zur Estnischen Gesellschaft der Schweiz und dem finden Sie unter www.eestiselts.ch und www.estonia100switzerland.com