MISSHANDLUNG: Sie schützen Kinder vor ihren Peinigern

Wöchentlich wird die Kinderschutzgruppe des Luzerner Kinderspitals mit Misshandlungsfällen konfrontiert. Das ist heikles Terrain, besonders der Umgang mit den Eltern. Zum Schutz des Personals braucht es in krassen Fällen auch polizeiliche Hilfe.

Thomas Heer
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Unfall oder Misshandlung? Diese Frage versucht die Kinderschutzgruppe des Luzerner Kantonsspitals zu beantworten. (Symbolbild: Stefan Keiser)

Unfall oder Misshandlung? Diese Frage versucht die Kinderschutzgruppe des Luzerner Kantonsspitals zu beantworten. (Symbolbild: Stefan Keiser)

Thomas Heer

thomas.heer@luzernerzeitung.ch

Wer in der Kinderschutzgruppe des Luzerner Kinderspitals arbeitet, muss nicht nur über beste medizinische Kenntnisse verfügen. Es braucht auch viel Erfahrung und ein gutes Gespür. Denn täglich gilt es, von den Ärztinnen und Pflegefachpersonen Dutzende von Notaufnahmen zu behandeln. Dementsprechend schwierig ist es, genau jene Fälle zu erkennen, bei denen tatsächlich eine Kindesmisshandlung vorliegt. Denn die kleinsten Patienten sprechen nicht, und das Spitalpersonal sieht sich oft hilflosen und überforderten Vätern und Müttern gegenüber.

Im vergangenen Jahr behandelte die Kinderschutzgruppe des Luzerner Kinderspitals 76 Misshandlungsfälle. Dies bedeutet einen Anstieg von knapp 6,5 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2016.

Die Polizei sitzt im Nebenzimmer

Bei den Vorkommnissen handelt es sich um allgemeine Vernachlässigungen, aber auch um körperliche und psychische Misshandlung, sexuellen Missbrauch und – besonders komplex – das Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Dabei geht es darum, dass zum Beispiel eine Mutter bei ihrem Kind absichtlich eine Krankheit provoziert, um danach in angeblich fürsorglichem Eifer die nötige medizinische Hilfe zu beanspruchen.

Die Luzerner Kinderschutzgruppe löste 2017 in 25 Fällen bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eine Gefährdungsmeldung aus, dreimal kam es sogar zu einer Strafanzeige. Ob letzteres auch auf jenen Fall zutraf, in welchem ein Säugling mit einem atypischen Knochenbruch eingeliefert wurde, darf Rolf Stallkamp, Leiter Kinderschutzgruppe des Luzerner Kinderspitals, aus Gründen des Datenschutzes nicht sagen. Gemäss Stallkamp komme es in Einzelfällen auch vor, dass Eltern eine Behandlung für das Kind ablehnen, abtauchen und dann die Kesb eingeschaltet werden muss.

In der Kinderschutzgruppe arbeiten Experten aus verschiedenen Disziplinen zusammen. Da finden sich Psychologinnen, Kinderärzte, Kinderchirurgen, eine Kindergynäkologin, Sozialarbeiterinnen und Fachleute aus der Pflege. Stallkamp sagt: «Unser Ziel ist stets, dass wir mit den Eltern ein konstruktives Verhältnis aufbauen können, um gemeinsam eine gute Lösung zu finden. Das gelingt uns auch häufig.» Nur so sei es möglich, dem Wohl des Kindes gerecht zu werden.

Nicht immer aber kommt es zu einer einvernehmlichen Zusammenarbeit. Auch ein Laie erkennt, wie heikel es werden kann, Eltern mit dem Vorwurf einer Kindesmisshandlung zu konfrontieren. Die Reaktionen fallen je nach Charakter unterschiedlich aus. Stallkamp sagt, in Ausnahmefällen käme es seitens der Eltern auch zu Gewalttätigkeiten. Dann sei polizeilicher Schutz gefragt. Stallkamp erklärt: «In extremis muss bei einem Gespräch die Polizei im Nebenzimmer anwesend sein.»

Entscheide, wann und wie bei Verdachtsfällen vorzugehen ist, werden nie von einer Person allein gefällt. Die Vertreter der verschiedenen Fachbereiche innerhalb der Kinderschutzgruppe diskutieren über die aktuellen Fälle gemeinsam und befinden dann über das weitere Vorgehen.

Jugendliche wenden sich an die Opferberatungsstelle

Mit Gewalt an Kindern und Jugendlichen muss sich auch die Opferberatungsstelle häufig auseinandersetzen. Gemäss Reto Wiher, Leiter der Luzerner Opferberatungsstelle, komme es jährlich zu rund 1900 Neuanmeldungen. Bei zirka 18 Prozent davon ginge es um Personen unter 18 Jahren. Das sind knapp 350 Fälle. Etwa die Hälfte davon, so Wiher, betreffe körperliche und psychische Gewalt im häuslichen Umfeld. Beim Rest handelt es sich um Sexualdelikte und Gewalt im öffentlichen Raum, beispielsweise an Schulen. Und ein weiterer Teil der Hilfesuchenden sind Opfer von Unfällen im Strassenverkehr. Wiher sagt: «Wir werden oft mit Verdachtsfällen konfrontiert. An uns liegt es dann, zu eruieren, ob sich der Verdacht erhärtet.» Das geschieht oft in Zusammenarbeit mit anderen kantonalen Stellen wie der Kesb oder der Polizei.