In Zeiten der Corona-Pandemie sind die Klienten der Spitex Stadt Luzern vom Virus stark gefährdet. Drei Besuche zeigen: Sie haben den Humor nicht verloren – doch Vorsicht ist geboten.
Der erste Gegenstand, der im Schlafzimmer von Martin Ruf auffällt, ist eine alte Schreibmaschine. Sie ist von der Marke Rheinmetall, dürfte in den 50er-Jahren in Düsseldorf gebaut worden sein. «Ich habe zwei davon», sagt der 79-Jährige, als er sich auf das orange Laken seines Bettes legt. So kann ihm Simona Ziegler besser die Strümpfe wechseln. Im Hintergrund beschallt ein Radio die 3,5-Zimmer-Wohnung, die Tonqualität ist schlecht. In der Küche tickt eine kleine Wanduhr der SBB.
Simona Ziegler ist an diesem Freitagmorgen für die Spitex Stadt Luzern im Einsatz. Die 21-jährige Diplomierte Pflegefachfrau hat bis im letzten Herbst noch in einem Pflegeheim gearbeitet, ehe sie im Oktober zur städtischen Spitex gestossen ist. Sie wird bis Mittag mehrere Personen besuchen und pflegen, ihnen zuhören und sie über das Corona-Virus informieren.
«Konnten Sie eine Einkaufsliste machen?», fragt sie Martin Ruf. Gerade hatte sie ihm den Blutdruck gemessen, die Werte liegen im Normalbereich. Ruf verneint: Dies habe er vergessen. Viel lieber redet er über seine Leidenschaft für die Fotografie. Er spricht von Balgengeräten und Zwischenringen – und darüber, wie ihn die heutigen Apparate überfordern. Während seinen Ausführungen lächelt er. Er scheint den Besuch zu geniessen, die Beziehung ist vertrauensvoll. «Für Sie wird heute geklatscht», sagt Ruf und fügt spitzbübisch an: «Eigentlich sollte man aber den Auspuff der Autos abschrauben, dann klingt es viel lauter.» Beide müssen herzhaft lachen.
Jede dritte Person, die von der Spitex Stadt Luzern betreut wird, ist mindestens 80 Jahre alt. Ziegler spezifiziert: «All unsere Klienten gehören zur Risikogruppe – oft wegen des Alters, teilweise aber auch, weil sie an einer chronischen Krankheit leiden.» Besonders gefährdet sind gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) nämlich nicht nur Personen ab 65 Jahren, sondern auch jene mit Bluthochdruck, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – die Liste ist nicht abschliessend.
«Ich hoffe, er macht heute noch einen Einkaufszettel», sagt Simona Ziegler nach dem Besuch bei Martin Ruf. Gerade hat sie sich im Smart angeschnallt, den sie vorhin im Gebeneggweg parkiert hatte. Die Hände desinfiziert sie jeweils vor und nach den Besuchen bei ihren Klienten. Dies ist nichts Neues; bereits vor der Verbreitung des Corona-Virus galt diese Hygienevorschrift. Je nach Situation tragen die Mitarbeitenden neu jedoch einen Mundschutz. «Zu Beginn hat dies teilweise irritiert», sagt Simona Ziegler. «Wir haben deshalb auch eine Sprachbarriere festgestellt – viele unserer Klienten hören schlecht.» So könnten diese ihre Artikulation nicht mehr sehen.
Es ist kurz vor zehn Uhr. Peter Hofmann* sitzt auf einem Gymnastikball, als Simona Ziegler seine Wohnung betritt. An der Eingangstür hängt ein Foto der Meistermannschaft des FC Luzern von 1989, über dem Fernseher ein Bild von ihm und dem ehemaligen FCL-Präsidenten Walter Stierli. Damals strahlte Hofmann, nun ist Tristesse eingekehrt. «Ich bin seit über 40 Jahren FCL-Fan. Doch jetzt wird nicht mehr gespielt», sagt er traurig. Simona Ziegler verarztet sein Ohr, später wird sie Zigarettenstummel und Asche von einem Tischchen wischen. Hofmann ist Raucher: «Ist das schlimm?», fragt er. Seine Unsicherheit ist spürbar, die Erläuterungen der Angaben des BAG werden zur Pflicht.
In der täglichen Arbeit der Spitex ist derzeit vor allem die Sensibilisierung wichtig. Tatsächlich ist bisher noch keine der rund 1000 betreuten Personen am Corona-Virus erkrankt. Auch innerhalb der Spitex gab es noch keine Ansteckungen. Panikmache sei deshalb fehl am Platz, eine erhöhte Wachsamkeit jedoch essenziell. Auch wenn das Schweizer Gesundheitssystem gemäss Spitex besser ist als das Italienische, könne auch hier die Infektionskurve rapide ansteigen. Da der sorgfältige Umgang im ambulanten Bereich die Spitäler entlastet, ist die Botschaft der Organisation klar: Wer zur Risikogruppe gehört und nicht zu Hause bleibt, könnte in ein paar Wochen zur Überlastung des Gesundheitssystems beitragen.
Dies wird bei der nächsten Klientin deutlich. Edith Deplazes* strahlt, als Ziegler ihre Wohnung betritt. Hinter ihr zottelt Katze Juki aus der Küche. «Dank ihr bin ich nicht so allein», sagt sie. Seit letzter Woche habe sie ihre Wohnung nicht verlassen, ihr Sohn kaufe für sie ein. «Er ist Lastwagenfahrer und kommt nach Feierabend vorbei», erklärt sie. Dabei behalte er aber immer den nötigen Abstand – zwei Meter schreibt das BAG vor.
Deplazes hat zwei Töchter. Eine sitzt derzeit wegen des Virus in Frankreich fest. Die andere komme aus dem Senegal zurück. Deplazes wünscht sich, dass ihre Tochter sie besuchen kommt. Da schreitet Ziegler sanft ein: «Ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist. Wir wollen doch, dass Sie gesund bleiben.» Dies versteht die Klientin. Sie könne ja telefonieren, meint Deplazes. Dann werde einfach die Telefonrechnung etwas höher. Beim Abschied fügt sie an: «Bleiben auch Sie gesund! Sonst haben wir bald niemanden mehr.»
*Namen der Redaktion bekannt.