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Unverrückbar im Kalender, verrückbar im Kopf. Der 1. August steht so fest wie die Alpen. Fachhistorisch ist er jedoch auf Sand gebaut. Entstanden ist die Eidgenossenschaft nicht 1291, sondern im wilden 15. Jahrhundert. 10 Proben aufs Exempel.
1891 erklärte der Bundesrat den 1. August zum Nationalfeiertag. Das entsprach dem Forschungsstand am Ende des 19. Jahrhunderts. Noch hundert Jahre später hielt die offizielle Schweiz an dieser überholten Vorstellung fest. 1993 nahmen Volk und Stände die Initiative «für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag» an. Dabei erreichten die Ja-Stimmen einen Anteil von 83,8 Prozent. Es war die weitaus höchste Zustimmung, die bei einer Volksinitiative in der Schweiz je erzielt wurde. Am offiziellen Bundesfeiertag ist seither erst recht nicht mehr zu rütteln. Das hindert aber nicht daran, im Kopf gleichsam einen Schalter zu drehen. Die Eidgenossenschaft wurde nicht «gegründet», sondern errungen. Aber wenn nicht 1291, wann dann? Eine einzige Antwort reicht nicht. Eine einzig richtige ist schon gar nicht in Sicht. Zehn Jahreszahlen sollen daraufhin geprüft werden, ob sie für ein «Entstehungsjahr der Eidgenossenschaft» in Frage kämen – ein historischer Tour d’horizon.
Landfriedensbündnisse wie jenes von Anfang August 1291 gab es im 13. und 14. Jahrhundert Dutzende. Der «Bundesbrief» war kein Unikum. Ziel war 1291 nicht etwa eine neue Ordnung, sondern ausdrücklich die Befestigung der alten. Die da oben befahlen weiterhin, die da unten hatten auch fortan zu gehorchen. Von persönlicher Freiheit kein Wort. 1291 darf nicht mit 1789 verwechselt werden. Gemäss dem Historiker Roger Sablonier könnte der Bundesbrief 1309 ausgestellt worden sein, als die Reichsvogtei der Waldstätte eingerichtet wurde – rückdatiert auf 1291. So oder so: Die Vorstellung einer «Staatsgründung» wäre völlig verfehlt.
Der Bundesbrief von 1291 war jahrhundertelang nicht mehr auffindbar. Der Morgartenbrief von 1315 dagegen, weitgehend identisch mit jenem, wurde in den eidgenössischen Bundbüchern stets am Anfang aufgeführt und galt lange als erster Bund. Das deutsch abgefasste Dokument steht zu Unrecht im Schatten von «1291». Allerdings sagt auch hier Artikel 3: «Ez sol aber ein jeglich mensche, ez si wib oder man, sinem rechten herren oder siner rechten herschaft gelimphlicher und cimelicher dienste gehorsan sin.» Nach Aufstand und Revolution tönt das nicht.
Es gab zwar seit 1353 einen losen Verband von acht Orten, aber noch keine achtörtige Eidgenossenschaft. Ein gemeinsames Dokument, das alle Partner umfasste, existierte nicht. So etwa waren Zürich und Bern nicht direkt miteinander verbündet, sondern bloss dadurch, dass beide Städte je mit den drei Waldstätten im Bunde waren.
Nach einem Rechtshändel kamen Zürich, Luzern, Zug und die inneren Orte 1370 überein, ihr Gerichts- und Kriegswesen in ihren eigenen Herrschaftsgebieten nach gemeinsamen Abmachungen zu regeln. So etwa wurden Fehden untersagt, und die einzelnen Orte verpflichteten sich, ihren Anteil an der Gotthardstrecke besser zu überwachen. Erstmals wurden die acht Orte in dieser Urkunde zudem «unser Eydgnoschaft» genannt. Allerdings beteiligte sich Bern an dieser Übereinkunft nicht. Auch im Sempacherbrief von 1393 befestigten die acht Orte und Solothurn gemeinsam Recht und Ordnung. Dazu regelten sie vor allem das Recht im Krieg. Trotz ihrer Bedeutung haben diese Abmachungen aber erst den Charakter von Vorstufen.
Während des Konzils von Konstanz (1414 bis 1418) wurden die Eidgenossen aufgefordert, im Rahmen eines Reichskriegs gegen den habsburgischen Herzog Friedrich vorzugehen. Das führte dazu, dass der Aargau zur ersten gemeinsamen Eroberung der acht eidgenössischen Orte wurde. Das Freiamt und die Grafschaft Baden führten die Eidgenossen zur ersten gemeinsamen Verwaltungsaufgabe zusammen. Später kamen weitere «Gemeine Herrschaften» dazu und wirkten jahrhundertelang als institutionelle Klammern der Eidgenossenschaft. SRF titelte deshalb im Gedenkjahr: «Wie der Aargau 1415 zur Wiege der Schweiz wurde». Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. 1415 gehört nach dem Historiker Bernhard Stettler zur «Suche nach einem gemeinsamen Nenner».
Der Konflikt um das Erbe des letzten Toggenburger Grafen war in dieser Entwicklungsphase der Eidgenossenschaft die mit Abstand längste und schwerste Krise. Zeitlich zog sie sich 14 Jahre hin, von 1436 bis 1450. Territorial ging es um eine Streitmasse, die vom Toggenburg bis nach Vorarlberg und ins Bündnerland reichte. Auf der einen Seite Zürich, auf der anderen Schwyz und Glarus sowie die übrigen Orte. Von den Eidgenossen in die Enge getrieben, suchte Zürich Unterstützung bei Österreich und schloss 1442 ein Ewiges Bündnis mit König Friedrich III. Als freie Reichsstadt war Zürich formal dazu berechtigt. Dennoch spricht diese Allianz mit Habsburg noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts eine deutliche Sprache. Die Tragweite der Krise begünstigte nach dem Zürichkrieg eine Festigung und Profilierung der Eidgenossenschaft. 1454 wurden der Luzerner-, Zürcher- und Zugerbund neu ausgestellt. Von herausragender Bedeutung war dabei, dass es in den alten Bünden noch geheissen hatte, die Satzungen seien nur so weit verbindlich, als die habsburgischen Rechte dadurch nicht angetastet würden. In den aktualisierten Fassungen liessen die eidgenössischen Orte den juristisch entscheidenden Vorbehalt der Rechte Österreichs nun weg. Die habsburgischen Ansprüche wurden einseitig gestrichen. Die Vertragstexte erhielten so einen autonomen Status. Der Historiker Volker Reinhart formuliert, damit habe man die Vergangenheit «eidgenössischer» gemacht, als sie je gewesen sei. Licht und Schatten: Hier die Gräuel der eidgenössischen Kriegführung und das Bündnis Zürichs mit Habsburg, dort ein Frieden aus eigener Kraft und die schliesslich gemeinsame Distanzierung von Österreich durch die Neuausfertigung der Bünde. 1454 statt 1291?
Im Vorfeld der Burgunderkriege vermittelte der französische König Ludwig XI. einen dauerhaften Ausgleich zwischen den Eidgenossen und Österreich, die sogenannte «Ewige Richtung». Dabei konnte den Habsburgern ein Verzicht auf Herrschaftsrechte abgerungen werden, die sie zwar bereits lange zuvor an die Eidgenossen abgetreten hatten, aber nur befristet. Bis anhin hatte Habsburg noch mit dem Rückkauf dieser Herrschaften gerechnet. Knapp hundert Jahre nach dem Sieg über Österreich bei Sempach war ein bedeutsamer Wendepunkt erreicht. Das Zeug zu einem «Entstehungsjahr» hat aber auch 1474 nicht.
An zwei Konflikten lässt sich die tiefe Krise der Eidgenossenschaft im Vorfeld der berühmten Tagsatzung in Stans ermessen. Nach der Schlacht in Nancy rotteten sich 1477 in der Fastnachtszeit Kriegsleute aus Uri, Schwyz und andern Orten zum «Saubanner-» oder «Kolbenbannerzug» zusammen. Auf eigene Faust wollten sie in Genf eine ausstehende Schuld aus einem früheren Auszug eintreiben. Erst tief im Waadtland konnten die Obrigkeiten den wilden Haufen von etwa 1700 Mann stoppen. Genf blieb militärisch verschont, wurde aber arg gebeutelt. Obwalden sah 1478 eine letzte Chance für eine Ausdehnung und wiegelte die Entlebucher auf, sich von Luzern zu lösen und Obwalden anzuschliessen. Das Vorhaben missriet. Luzern liess den Entlebucher Landeshauptmann Peter Amstalden hinrichten. Das befeuerte den Graben zwischen den Stadt- und Landorten. Zürich, Bern und Luzern traten in ein Burgrecht mit Freiburg und Solothurn, um sich vor weiteren Übergriffen zu schützen und die Aufnahme von Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft durchzusetzen. Die Landorte hielten vehement dagegen. Sie fürchteten, ihr Einfluss schwinde noch mehr. Dieser Burgrechtsstreit schien unüberwindbar. Nach mehrfach vertagten Verhandlungen ging es um Sein oder Nichtsein. Zum Einlenken trug massgeblich Bruder Klaus bei. Was er der Tagsatzung riet, geht aus den Quellen zwar nicht hervor, und persönlich erschien er nicht in Stans. Fest steht aber, dass die oft zitierte Mahnung «machend den zun nit zuo wit» nicht von Bruder Klaus stammt, sondern von Hans Salat, der damit 1536 auf die Eroberung der Waadt durch die reformierten Berner zielte. Materiell war die Einigung ein politisches Kabinettstück. Der Städtebund mit Freiburg und Solothurn musste aufgelöst werden. Noch am gleichen Tag aber wurden die soeben ausgeschlossenen Städte Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft aufgenommen! Allerdings mussten die Neuen leicht verminderte Rechte in Kauf nehmen und wurden im Hauptdokument, dem Stanser Verkommnis, nicht erwähnt. Die Landorte hatten erreicht, dass die Eidgenossenschaft offiziell weiterhin aus acht Orten bestand. An der Urkunde hängen bloss acht Siegel, nicht deren zehn. Ein Balanceakt in extremis. 1481 als «Entstehungsjahr»? Mit oder ohne Freiburg und Solothurn?
Nach wirrem Kriegsgeschehen verfestigte sich entlang des Rheins auf der Linie Basel-Bodensee-Bündnerland die spätere Landesgrenze. Allerdings blieb das Fricktal noch drei Jahrhunderte österreichisch, die Westschweiz noch knapp 40 Jahre savoyisch. Eine faktische Loslösung vom deutschen Reich erfolgte nicht. 1499 hat als «Entstehungsjahr» keine Chance.
Nach dem Beitritt von Basel, Schaffhausen und Appenzell 1513 sowie nach den Eroberungen des Tessins und der Waadt erreichte die Eidgenossenschaft einen territorialen Bestand und eine politische Struktur, die bis zum Beginn der Helvetik 1798 hielten. Das war zweifellos eine wichtige Etappe. Angesichts der dramatischen Vorgeschichte von rund zweihundert Jahren ist aber auch 1513 nicht als «Entstehung» zu bezeichnen.
Wenn die Entstehung eines Gemeinwesens gefeiert werden soll, braucht es ein konkretes Datum, das als Feiertag im offiziellen Kalender fixiert werden kann. Der Historiker Thomas Maissen spricht von der «suggestiven Kraft präziser Daten». Ein solches Datum ist für die Entstehung der Eidgenossenschaft nicht auszumachen. Bezeichnen lässt sich hingegen ein Zeitraum, der als Entstehung verstanden werden kann. Das ist die Zeit zwischen 1400 und 1500, als in einer politischen Berg- und Talfahrt zwischen Gemeinsinn und Eigennutz die nüchterne Einsicht überwog, die Bündnisse brächten mehr Vorteile als Nachteile. Selbst in schweren Krisen erwiesen sich die Eidgenossen als Meister in der Kunst des Möglichen. «Was tun?», sprach Zeus. Begehen wir als Gedenktag weiterhin den 1. August, aber mit Blick auf den Bundesstaat von 1848 – und das 15. Jahrhundert!
Kurt Messmer ist freischaffender Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum. Er war Fachleiter Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Luzern und Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität Freiburg, Schweiz.
Literatur:
Bruno Meier: 1291 — Geschichte eines Jahres. 200 Seiten. Baden 2018, Verlag Hier und Jetzt, 34 Franken.
Kurt Messmer: Die Kunst des Möglichen. Zur Entstehung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. 240 Seiten. Baden 2018, Verlag Hier und Jetzt, 49 Franken.