NEUENKIRCH: Packt ihn das Fernweh, greift er zur Farbe

Künstler Tino Steinemann geht nie ohne Skizzenbuch auf Reisen. Eine Ausstellung zeigt nun: Auch Alltag kann zu Kunst werden.

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Tino Steinemann (70) mit einem von über 200 Reiseskizzenbüchern in seinem Zuhause in Neuenkirch. (Bild Dominik Wunderli)

Tino Steinemann (70) mit einem von über 200 Reiseskizzenbüchern in seinem Zuhause in Neuenkirch. (Bild Dominik Wunderli)

Evelyne Fischer

Vom Flughafen das orange Easyjet-Ticket, vom Hotel-Frühstück der gelbe Lipton-Teebeutel. In Tino Steinemanns Reiseskizzenbücher geben häufig Alltäglichkeiten die Leitplanken der Gestaltung vor, bestimmen den farblichen Grundton, den grafischen Aufbau. Über 200 solche Bücher besitzt er – hier ein schmales rotes, dort ein schwarzes mit Ledereinband. Eine Auswahl davon ist derzeit in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern zu sehen. Wie sich zeigt, musste als Unterlage in der Not auch mal ein Taschenbuch herhalten. In Berlin etwa. «Was ich gelesen hatte, konnte ich bekleben und gestalten», sagt Steinemann.

«Eher Beigemüse als Kunstwerk»

Seit 1976 wohnt und arbeitet Tino Steinemann zusammen mit seiner Frau Brigitte Steinemann-Reis in der alten Chäsi in Rippertschwand, Neuenkirch. In ihrer «Luzerner Designgalerie» realisierten die beiden über 100 Ausstellungen im Bereich Design, Architektur, Fotografie, Kunsthandwerk und Kunst. «Die Skizzenbücher lagen meist als Beigemüse daneben. Nie sah ich sie als Werk für die Ewigkeit an.»

An sein Erstes mag er sich gut erinnern. 1959 war das. Der gebürtige Altdorfer Steinemann besuchte das Kollegi, fuhr mit Reisetasche und Block für einen Französisch-Aufenthalt ins Welschland. «Ich brachte die einst weissen Blätter gut gefüllt zurück.» Schon damals riet ihm ein Berufsberater, sich nach der Matura der Kunst zu widmen. «Sehr zum Missfallen meiner Eltern.» Etwas Rechtes sollte er ihrer Meinung nach lernen. Also wurde er Bauzeichner. Kaum aber war er volljährig, schrieb er sich an der damaligen Kunstgewerbeschule in Luzern ein.

Gewichten, schichten, verdichten

«Die Breite meiner Ausbildung kam mir später als Grafiker zugute», sagt Steinemann heute. Als einer jener Gilde taucht sein Name denn auch meist auf. «Man kennt mich in erster Linie als Grafiker, gegen diese Schubladisierung habe ich mich auch nie gewehrt. Persönlich sah ich mich aber immer auch als Künstler», sagt Steinemann. Wie vielfältig sein Werk ist, belegen nicht zuletzt die Skizzenbücher, die in den letzten 40 Jahren zusammenkamen. Skizzieren heisse für ihn, Eindrücke einzufangen – «optische Eindrücke, visualisierte Gedanken und Ideen zu notieren», wie es in seinem Reisebuch aus den USA aus dem Jahr 1973 heisst. Skizzieren heisse beobachten, aufsaugen, wieder und wieder hinschauen. Gewichten, schichten und verdichten. «Beim Blättern steigt mir unweigerlich der Duft der Strasse in die Nase, spüre ich das nasskalte Wetter von damals in den Gliedern.» Würde er bloss den Auslöser seiner Kamera bedienen, hätten sich diese Momente nie so stark in seine Erinnerung eingenistet. «Ein Skizzenbuch hat zudem etwas sehr Intimes, ist ein Türöffner in fremde Kulturen», sagt Steine-mann. Auf seiner Indienreise von 2007 klinkte er sich eines Abends aus der Gruppe aus, setzte sich mit seinem Skizzenbuch hin, worauf sich aus Neugier bald Einheimische um ihn scharten.

Die Ehrfurcht vor den leeren Seiten

Den Anfang seiner Skizzen machen häufig gestempelte Nummern. Die Seitenzahlen. «Sie nehmen mir die Ehrfurcht vor den leeren, weissen Seiten.» Für alles Weitere inspiriert er sich vor Ort, überlagert hier die Schriftzüge von Luxusmodeketten mit der Skizze einer Basilika, kopiert dort die Blumen am Wegerand. Oft lässt er sich von Literaten leiten, lässt in Prag Franz Kafkas Käfer von «Die Verwandlung» ins Werk einfliessen, zitiert in Chicago Ernest Hemingway, in Brasilien den Lateinamerika-Kenner Hugo Loetscher.

Die ausgestellten Skizzenbücher wandern später übrigens nicht auf Steine-manns Regale zurück, sondern gelangen als Legat ins Bibliotheksarchiv. «Als Künstler besitzt man das Privileg, nie in Pension gehen zu müssen. Den Nachlass gilt es aber zu regeln, bevor es zu spät ist», sagt Steinemann, der kürzlich 70 wurde. Plakate, dazugehörige Programmhefte oder Bühnenbilder gelangen dereinst in die schweizerische Grafiksammlung. Offen ist, was mit seinen Bildern passiert. «Ich habe keine Lust, mein Werk zu kommerzialisieren. Einen Ausverkauf wird es nicht geben.» Was es aber sicher geben wird sind weitere Skizzenbücher: Die nächsten Reisen nach Oslo und Costa Rica sind bereits geplant.

Hinweis

Die Ausstellung «Voyager. Reiseskizzenbücher von Tino Steinemann» in der Zentral- und Hochschulbibliothek dauert bis Samstag, 31. Oktober. Sempacherstrasse 10, Luzern. Weitere Infos unter www.zhbluzern.ch.