Luzerner mussten ohne Delikt in die Anstalt

Bis 1981 wurden auch im Kanton Luzern Abweichler, Landstreicher, Trunksüchtige oder sogenannte «arbeitsscheue Menschen» administrativ versorgt. Interniert wurde auch, wer den Kanton kostete.

Urs-Ueli Schorno
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Ein Blick in die ehemalige Luzerner Zwangsarbeitsanstalt Sedel. (Bild: Staatsarchiv Luzern: 4B/1818)

Ein Blick in die ehemalige Luzerner Zwangsarbeitsanstalt Sedel. (Bild: Staatsarchiv Luzern: 4B/1818)

In der Schweiz wurden bis 1981 Zehntausende Erwachsene und Jugendliche in Anstalten weg­gesperrt – ohne dass sie eine Straftat begangen haben. Auch im Kanton Luzern, wo in der Luzerner Zwangsarbeitsanstalt ­Sedel – heute finden auf dem ­Hügel ob dem Rotsee Punk-Konzerte statt – vermutlich Hunderte Menschen interniert wurden. Grundlage war das «Sedel­gesetz» von 1885, das bis in die 1960er-Jahre Gültigkeit hatte.

Eine unabhängige Expertenkommission (UEK), eingesetzt vom Bund, arbeitet dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte nun auf. Teil dieser Aufarbeitung ist die Wanderausstellung «Ausgegrenzt und weggesperrt», die noch bis zum Sonntag beim Torbogen beim Luzerner Bahnhof haltmacht. Heute Samstag findet zudem eine Führung im Sedel statt. Dort wurden Personen interniert, denen vorgeworfen wurde, alkoholkrank, Müssiggänger, liederlich, arbeitsscheu oder Prostituierte zu sein.

Keine Rekursmöglichkeit trotz Unbescholtenheit

«Meist waren auf die öffentliche Hand angewiesene, ärmere Schichten betroffen», weiss Noemi Dissler. Sie hat zur administrativen Versorgung im Kanton Luzern geforscht und wird heute an der Führung im Sedel die rechtlichen Aspekte ausführen, welche diese Zwangsmassnahmen erst ermöglichten. «Aus heutiger Sicht erscheinen diese Gesetze unverhältnismässig», sagt sie. Besonders der Umstand, dass es für Zwangsinternierte keine Rekursmöglichkeit gab und Versorgungen mit schwammigen Begründungen für bis zu zwei Jahre angeordnet werden konnten, wäre in der modernen Rechtssprechung undenkbar.

Ein zentrales Moment, ob eine Luzernerin oder ein Luzerner in den Sedel kam, war auch, ob die betroffene Person dem Kanton auf der Kasse lag. «Der Kanton Luzern war finanzpolitisch am Limit. Die Gemeinden fürchteten eine Massenarmut und suchten nach Lösungen – die Anstaltsinternierung bot einen möglichen Lösungsweg», so Dissler.

Das Sedelgesetz war in seiner ursprünglichen Fassung sehr vage formuliert und erlaubte dadurch eine «kreative» Anwendung auf verschiedene Fälle. Bemerkenswert: «Die Behörden unterschieden zwischen würdigen und unwürdigen Armen», so Dissler. Anders gesagt: Wer arm war, aber einen guten Leumund hatte, musste weniger befürchten, aufs Feld oder zum Kies­abbau gezwungen zu werden. Gleichzeitig habe man seitens der Behörden auch gewusst, dass die Institution dem Besserungsanspruch nicht gerecht wurde. «Die Luzerner Regierung rechnete stattdessen mit einer abschreckenden Wirkung der Zwangsarbeitsanstalt.»

Genaue Zahlen sind nur schwer eruierbar

Viele Kantone formulierten mit der Zeit spezifischere Gesetze für die administrative Versorgung. Je nach politischem Wind gelangten neben vermutlich Trunksüchtigen etwa auch Prostituierte ins Visier der Behörden. Trotz Widerstand, auch aus juristischen Kreisen, wurde der Sedel bis 1959 als Zwangsarbeitsanstalt betrieben. Die administrative Versorgung in der Schweiz wurde 1981 auf nationaler Ebene vereinheitlicht. Wie viele Personen tatsächlich in Luzern administrativ versorgt wurden, da ist die Quellenlage lückenhaft. Es ist laut Dissler das Ziel einer Publikation der UEK, die im Mai erscheint, die Anzahl Betroffener abzuschätzen.

Hinweis: Führung im Sedel zum Thema «administrative Versorgung» unter anderem mit Kuratorin Eva Locher, den Historikerinnen Noemi Dissler und Laura Schneider und Sedel-Präsident Silvan Weibel. Heute von 14 bis 16 Uhr. Treffpunkt Torbogen beim Bahnhof Luzern.