Pandemie
Zuerst war sie schockiert, heute sieht sie auch Vorteile: So erlebte eine Udligenswilerin den schwedischen Coronaweg

«Die hier vorherrschende Vorstellung, die Schweden gehen mit Corona locker um, täuscht.» Das sagt Simone Hinnen aus Udligenswil, die bis Ende 2020 in Stockholm lebte. Nun hat sie ihre Erlebnisse in einem Buch festgehalten.

Stefan Dähler
Drucken

Kaum ein anderes Land stand während der Coronapandemie medial so stark im Fokus wie Schweden. In Erinnerung geblieben sind die Bilder voller Restaurants im Frühjahr 2020, während der Rest Europas im Lockdown war.

Szene in Stockholm im April 2020.

Szene in Stockholm im April 2020.

Bild: Maxim Thore/Imago

Eine, die das miterlebt hat, ist Simone Hinnen (49) aus Udligenswil. Die Kommunikationsspezialistin und frühere Journalistin lebte aus beruflichen Gründen mit ihrer Familie von 2019 bis Ende 2020 in Stockholm und hat nun das Buch «Schweden in der Pandemie – Land zwischen Prügelknabe und Lichtgestalt – und die Schweiz als heimlicher Fan» herausgegeben.

Simone Hinnen, fotografiert im Helvetia-Pärkli.

Simone Hinnen, fotografiert im Helvetia-Pärkli.

Dominik Wunderli (Luzern, 28. Juli 2021)

«Die hier vorherrschende Vorstellung, die Schweden gehen mit Corona locker um, täuscht», sagt sie.

«Auch wenn Restaurants und Läden nie schliessen mussten, waren sie zeitweise praktisch leer.»

Im Sommer 2020 war Schweden gar restriktiver als viele andere Länder, weil die Massnahmen wie eine Obergrenze von 50 Personen für Veranstaltungen in Kraft blieben.

Mit ihrem Buch will die Udligenswilerin ein besseres Verständnis für den schwedischen Weg schaffen. Darin beschreibt sie den Verlauf der Pandemie bis Ende 2020, erklärt kulturelle Unterschiede zur Schweiz und schildert persönliche Erlebnisse. Auch Staatsepidemiologe Anders Tegnell kommt in einem Interview zu Wort.

Schweiz näherte sich Schweden in der zweiten Welle an

Er verkörpert den schwedischen Coronaweg: Staatsepidemiologe Anders Tegnell.

Er verkörpert den schwedischen Coronaweg: Staatsepidemiologe Anders Tegnell.

Bild: Lindahl Björn/Imago

Ein abschliessendes Urteil über die schwedische Pandemiebewältigung will sich Simone Hinnen nicht anmassen. Es gebe positive und negative Aspekte. «Europa kann im Nachhinein froh sein, dass Schweden einen eigenen Weg gegangen ist. Sonst hätte man keine Vergleichsmöglichkeiten gehabt.» Einiges wurde in der zweiten Welle von anderen Ländern übernommen, besonders der Schweiz, die sich Schweden annäherte und Schulen oder Skigebiete offen liess. «Auf der anderen Seite hatte Schweden besonders während der ersten Welle vergleichsweise hohe Todesfallzahlen.» Die prekäre Situation in Pflegeheimen führte denn auch zu kritischen Diskussionen, nachdem diese zunächst lange ausgeblieben seien.

Schweiz versus Schweden: Trotz ähnlichem Coronaweg gibt es grosse kulturelle Unterschiede

Schweden und die Schweiz werden wegen der vergleichsweise lockeren Coronamassnahmen gerne miteinander verglichen. Daraus könne man aber nicht schliessen, dass die Mentalität sehr ähnlich sei. «Es gibt grosse Unterschiede. In der Schweiz haben die Menschen den Anspruch, auf das beste Gesundheitssystem zählen zu dürfen und die besten Dienstleistungen einzufordern», sagt Simone Hinnen. «In Schweden reicht es hingegen, wenn beides in Ordnung ist.» Dazu passe das häufig verwendete Wort «Lagom», was man mit «gerade richtig, nicht zu viel und nicht zu wenig» übersetzen kann.

Entsprechend blieben die Coronamassnahmen in Schweden über Monate hinweg dieselben, während es in der Schweiz stets Anpassungen und zeitweise grosse regionale Unterschiede gab. Weiter sei das Vertrauen in den Staat und dessen Experten in Schweden sehr gross. «Man akzeptiert und befolgt, was der Staat vorgibt», sagt Simone Hinnen. In der Schweiz sei das zwar nicht ganz anders, und dennoch: Es werde mehr hinterfragt. Hinzu komme, dass das Wohl der Gemeinschaft in Schweden einen sehr hohen Stellenwert habe. So hätten sich viele an die Coronamassnahmen gehalten, obwohl es sich meist nicht um Verbote, sondern Empfehlungen handelte. Letztendlich seien die Todeszahlen in beiden Ländern traurigerweise ähnlich hoch, in Schweden etwas höher (Schweiz: rund 120 pro 100'000 Einwohner, Schweden: zirka 140). Auch in wirtschaftlicher Hinsicht kamen sie bisher ähnlich gut durch die Pandemie, nämlich besser als der europäische Durchschnitt. (std)

Was Simone Hinnen bis heute irritiert, ist der Umgang mit Schutzmasken. Zwar hiess es zu Beginn der Pandemie auch in der Schweiz, dass deren Nutzen begrenzt sei. Schweden hielt aber viel länger an diesem Weg fest. In der Schweiz wurde im Sommer 2020 die Maskenpflicht im ÖV eingeführt, in Schweden kam diese erst im Dezember zu Stosszeiten in der U-Bahn, als die Fallzahlen bereits enorm hoch waren und der König die schwedische Coronapolitik kritisierte – ein Tabubruch, sonst äussert sich dieser nie zur Politik. Entsprechend sei das Maskentragen lange verpönt gewesen, selbst unter Medizinern. Die Autorin schildert im Buch, wie sie bei einem Spitalbesuch im Herbst als Einzige eine Maske trug und schräg angeschaut wurde.

Schock und vorübergehende «Flucht» in die Heimat

Heute hat Simone Hinnen ein differenziertes Bild vom schwedischen Coronaweg. Zu Beginn sei sie aber, wie viele Expats, schockiert gewesen. Zu den lockeren Massnahmen kam noch, dass das schwedische Gesundheitssystem zwar qualitativ gut, aber schwer zugänglich sei. «Es gibt keine Hausärzte, sondern Gesundheitszentralen, bei denen es schwierig ist, einen Termin zu kriegen. Daher waren wir unsicher, ob wir im Notfall überhaupt eine Behandlung erhalten würden und agierten extrem vorsichtig.»

Im April 2020 brauchte die Familie eine Auszeit und ging für sechs Wochen in die Schweiz zurück. Möglich war das, weil die Kinder eine internationale Schule besuchten, die zwar offen blieb, aber auch Fernunterricht anbot. Die Reise war ein fast surreales Erlebnis: Flugzeug und Flughäfen seien praktisch leer gewesen. «Nach der Zollkontrolle in Kloten hatten wir das Gefühl, sicheren Boden zu betreten», sagt Simone Hinnen.

«Das war völlig irrational, die Fallzahlen in Schweden waren damals tiefer. Doch in der Schweiz sind mir Politik, Kultur und Gesundheitssystem vertraut.»

Die Zeit in der Heimat habe die Familie sehr genossen. Als die Schule der Kinder den Fernunterricht im Mai einstellte, flog die Familie wieder nach Schweden. Dort folgte der zweite Schock: «In der Schweiz kehrte das Leben zurück, die Fallzahlen sanken. In Schweden dagegen waren die Zahlen immer noch sehr hoch, die Strassen, Restaurants und Läden wie leergefegt, die Stimmung gedrückt.» Die schwedische Bevölkerung hatte sich quasi freiwillig einen Lockdown auferlegt.

Definitive Rückkehr in die Schweiz erfolgte früher als geplant

Der Hochsommer war dann wie in ganz Europa relativ sorglos, im Spätherbst kam es zu einer heftigen zweiten Welle – entgegen der Hoffnung Tegnells, diese würde aufgrund der höheren Durchseuchung kleiner ausfallen. Schliesslich beschloss die Familie, Schweden ein halbes Jahr früher zu verlassen als ursprünglich geplant. Nichtsdestotrotz hat Hinnen nach wie vor ein positives Bild des Landes. «Wir werden sicher wieder hinreisen.»

Das Buch ist im Eigenverlag erschienen und online auf Amazon für 15.38 Euro bestellbar.