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Auf direktem Weg zum Therapeuten: Die Zentralschweizer Patientenstelle begrüsst diese Idee, die Ärzteschaft des Kantons Luzern ist eher skeptisch.
In Ländern wie Holland, England oder Australien ist er schon länger Realität, in der Schweiz immer wieder mal Gegenstand von politischen Diskussionen. Die Rede ist vom Direktzugang zur Physiotherapie.
Mirjam Stauffer, Präsidentin von physioswiss – dem nationalen Verband der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten – bestätigt die Aktualität. Derzeit werde ein Pilotprojekt in zwei Regionen der Schweiz aufgegleist, welches den Nutzen des Direktzugangs zur Physiotherapie aufzeigen soll. Ein Zentralschweizer Kanton könnte beim Pilotprojekt ebenfalls integriert sein. Welcher das sein könnte, und inwiefern er eine Rolle spielen wird, ist noch offen.
Heute ist es so, dass in vielen Fällen Hausärzte oder Orthopäden eine Physiotherapie verordnen. Eine Verordnung beinhaltet neun Sitzungen. Sind diese abgelaufen und ist weiterhin eine Therapie angezeigt, muss der Patient beim Arzt wieder eine Verordnung einfordern – verbunden mit einem Arzttermin. Kostenpunkt: Zwischen zirka 15 und 40 Franken, abhängig davon, wie lange das Arzt-Patientengespräch dauert.
In Holland hingegen können Patienten seit 2006 ohne Verordnung eines Mediziners Physiotherapie in Anspruch nehmen und die Kosten über die Versicherung abrechnen. Das nennt man Direktzugang. In der Schweiz ist dieses Thema insbesondere deshalb wieder aktuell, weil die hiesigen Gesundheitsakteure Sparmöglichkeiten suchen. Beispiele dafür sind etwa die Strategie «ambulant vor stationär», die Notfallpauschale für Bagatellfälle auf Notfallstationen – vom Nationalrat kürzlich angenommen – sowie Tarifanpassungen des Bundes.
Für den Schweizer Verband der Physiotherapeutinnen- und therapeuten ist der Direktzugang gemäss Mirjam Stauffer ein grosses Projekt, an welchem momentan gearbeitet wird. Sie ist sich jedoch bewusst, «dass uns bezüglich Direktzugang ein rauer Wind entgegenweht». Sie führt aus:
«Viele Politiker erkennen die Chance nicht, dass durch den Direktzugang Kosten gespart werden können, wenn man das gesamte Gesundheitssystem volkswirtschaftlich betrachtet.»
Stauffer hingegen ist, gestützt auf Studien aus dem Ausland, davon überzeugt. Nachgewiesen sind zudem auch die positiven Aspekte eines Direktzugangs – ebenfalls basierend auf Erkenntnissen ausserhalb der Schweiz. «Es darf davon ausgegangen werden, dass die positiven Effekte in der Schweiz gleichwohl eintreffen könnten».
Dazu gehört etwa das Vermeiden von Doppelspurigkeiten in der Patientenversorgung wie die beschriebene zusätzliche ärztliche Konsultation oder die Überweisung der Patienten von Hausärzten an spezialisierte Ärzte, die dann allenfalls nochmals zuerst eine Diagnostik durchführen, bevor sie dann doch eine Physiotherapie verordnen. Dies wiederum würde zu einer Kostensenkung führen. Ferner könnte die Patientenzufriedenheit gesteigert werden, wie aus Erhebungen hervorgeht. So deshalb, weil die Wartezeit bis zum Behandlungsstart verkürzt werden könnte.
Physioswiss hat in diesem Jahr ein Positionspapier zum Direktzugang verfasst. Darin erläutert der Verband seine Ziele: So soll der Mehrwert des Direktzugangs anerkannt und im Krankenversicherungsgesetz verankert werden. Ein Bachelorabschluss sowie fünf Jahre klinische Erfahrung sollen unter anderem Voraussetzung sein, damit die Therapeuten den Direktzugang garantieren können. Verschiedene Punkte wie die genaue Definition der Kompetenzen sind noch offen.
Überzeugt von der Idee des Direktzugangs ist Barbara Callisaya, Stellenleiterin der Patientenstelle Zentralschweiz. Sie würde es begrüssen, wenn dieser für eine bestimmte Patientengruppe möglich würde.
«Für diagnostisch abgeklärte, chronisch kranke Patienten wäre der Direktzugang eine Erleichterung. Sie könnten sich zahlreiche Arztbesuche sparen.»
Zu den chronischen Krankheiten, die eine Physiotherapie erfordern, zählt Callisaya etwa Parkinson, Rheuma sowie Paraplegie.
Wünschenswert sei überdies, dass auch Patienten mit anderen, nicht chronischen Leiden, entlastet würden: «Eine Lösung könnte sein, dass man bis zu drei Mal jährlich ohne Verordnung Physiotherapie in Anspruch nehmen kann. Sind es mehr Behandlungen, muss ein ärztliches Attest ausgestellt werden.»
Callisaya weist darauf hin, dass im Zuge eines Direktzugangs die Haftpflichtfrage geklärt werden müsste. «Mit dem heutigen System sind Physiotherapeuten Sekundärleistungserbringer. Das heisst, der Arzt, der die Therapie verschreibt, steht in der Verantwortung. Bei einem Direktzugang hingegen würde diese Verantwortung an den Therapeuten abgegeben.»
Genau darin sieht Mirjam Stauffer vom Physioverband einen Vorteil: «Den Therapeuten würden mehr Kompetenzen überschrieben und der Berufsstand würde an Anerkennung gewinnen.» Das sei insofern wichtig, als dass auch bei den Physiotherapeuten der Fachkräftemangel – wie in vielen Gesundheitsberufen – Realität sei. Zudem würde ein Direktzugang die Patientenautonomie fördern. Stauffer: «Immer wieder appellieren Akteure im Gesundheitswesen an die Selbstverantwortung der Patienten. Mit dem Direktzugang würde dieser Rechnung getragen.»
Bei der Luzerner Ärztegesellschaft stösst die Idee nicht grundlegend auf Ablehnung. Dennoch äussert deren Präsident Aldo Kramis eine gewisse Skepsis: «Wir verstehen das Anliegen der Physiotherapeuten, welches aufgrund deren Qualifikationen auch durchaus berechtigt ist.» Und weiter:
«Doch ein Direktzugang bedeutet, dass eine Triagefunktion durch Ärzte wegfällt.»
Als sehr ungünstig erachte er vor allem den Ansatz der Patientenstelle, dass erst nach zwei oder drei Verordnungen ein Mediziner hinzugezogen werden müsse. «Solche Vorschläge lehnen wir klar ab, weil wir dann als Kontrolleure agieren müssten, was unbefriedigend ist.» Ferner weist Kramis darauf hin, dass der Leistungskatalog in der Grundversicherung bei einem Direktzugang ausgeweitet werden müsse. Er rechnet bei einem möglichen Direktzugang eher mit Mehrkosten als mit einer Kostenreduktion.
Für Mirjam Stauffer ist ebenso klar, dass der Direktzugang zur Physiotherapie dort sinnvoll ist, wo die Therapeuten die Erstversorgung eines Patienten vornehmen. «Der regelmässige Austausch mit Ärzte ist und bleibt wichtig, auch mit dem Direktzugang», betont sie. Stauffer ist optimistisch, dass der Direktzugang kommen wird. «Wir müssen aber mit einem Zeithorizont von mindestens vier bis fünf Jahren rechnen.»