Interview
Das Ende der Arbeit: Luzerner Ethik-Professor präsentiert Modell für die Zukunft

Das Zeitalter der bezahlten Arbeit neige sich rapide dem Ende zu, sagt Ethik-Professor Peter G. Kirchschläger. Doch was soll danach kommen? An der Universität Luzern präsentiert Kirchschläger nun ein alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell.

Ismail Osman
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Die digitale Transformation, wie etwa das Self-Scanning im Supermarkt, ist unumgänglich, sagt Ethiker Peter G. Kirchschläger. Die Gesellschaft müsse sich jedoch besser für die Konsequenzen dieser Entwicklung rüsten. (Bild: Philipp Schmidli, Luzern, 7. Juni 2019)

Die digitale Transformation, wie etwa das Self-Scanning im Supermarkt, ist unumgänglich, sagt Ethiker Peter G. Kirchschläger. Die Gesellschaft müsse sich jedoch besser für die Konsequenzen dieser Entwicklung rüsten. (Bild: Philipp Schmidli, Luzern, 7. Juni 2019)

Kurze Frage: Wie bereiten Sie sich eigentlich auf die bevorstehende Roboterapokalypse vor? Oder sind Sie bekennender Zukunftseuphoriker und riechen bereits den Morgenluft-Algorithmus eines sonnigen neuen Tages?

Diskussionen rund um Automatisierung und Digitalisierung verlaufen zumeist entlang der Gräben zwischen diesen beiden diametral entgegengesetzten Glaubensrichtungen.

Auch Peter G. Kirchschläger, Leiter des Instituts für Sozialethik an der Uni Luzern, beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Digitalisierung, Automatisierung, Robotisierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Für Kirchschläger steht fest: Die Konsequenz der Entwicklungen in den genannten Feldern sei, dass immer weniger Menschen an einer immer effizienteren und effektiveren Wertschöpfungskette direkt teilnehmen und teilhaben werden. Kirchschläger spricht hier von einer massiven Reduktion bezahlter Arbeit für Menschen.

Während andere Stimmen genau darin die prophezeite Roboterapokalypse sehen, sieht Kirchschläger eine Chance, unsere Gesellschaft als Ganzes weiterzubringen. Er hat ein Modell für die Zeit nach dem «Zeitalter der Erwerbsarbeit» formuliert. Dieses nennt sich «Society-, Entrepreneurship-, Research-Time-Model», kurz SERT. Es verbindet die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens mit dem Modell des Zivildienstes. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt Kirchschläger seinen Ansatz.

Peter Kirchschläger, wir befinden uns an der Theologischen Fakultät der Uni Luzern. Schon in der Bibel heisst es: «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.» Lohn als eine Folge von Arbeit ist ein zutiefst verankertes Konzept. Weshalb wollen Sie daran rütteln?

Weil wir mit einer gewaltigen Herausforderung konfrontiert sind: Der Tatsache, dass derzeit, als Konsequenz der digitalen Transformation, eine massive Reduktion von Arbeitsstellen stattfindet.

Neue Technologien haben bisher doch auch immer neue Jobs mit sich gebracht.

Historisch gesehen stimmt das durchaus. Neu und bisher einzigartig ist jedoch, dass die Automatisierung nicht mehr den Zweck hat, den Menschen bei der Arbeit zu entlasten, sondern diesen gänzlich zu ersetzen.

Diesen Punkt werfen auch Gewerkschaften schon seit einiger Zeit auf. Sie verlangen bessere Weiterbildungsmöglichkeiten oder Umschulungen auf andere Aufgaben.

Das Verlangen ist legitim. Es scheint jedoch wenig plausibel, dass dasselbe Unternehmen, welches Personen aus Effizienzsteigerungsgründen von der Lohnliste streicht, für deren Umschulung zu zahlen gedenkt.

Das heisst man muss akzeptieren, dass die Kassiererin oder Kassierer komplett aus dem Supermarkt verschwindet?

Das wäre eine realistischere Einstellung. Es geht hier übrigens längst nicht mehr «nur» um die Self-Checkout-Kasse. Die Automatisierung dringt in alle Bereiche und Zweige der heutigen Arbeitswelt vor – von der Baustelle über das Labor bis zur Verwaltung und der Anwaltskanzlei.

Herr Kirchschläger, würden Sie sich als «Digitalisierungsgegner» bezeichnen?

Keineswegs. Die Automatisierung an sich ist ethisch nicht problematisch. Weniger Arbeitszeit und mehr freie Lebenszeit müssen von einem ethischen Standpunkt aus keine schlechte Nachricht sein.

Aber ...?

In Bezug auf die Automatisierung – insbesondere künstlicher Intelligenz und den daraus stammenden selbstlernenden Programmen – bereitet mir Sorge, dass die Effekte bereits spürbar sind, wir aber nicht vorbereitet sind.

Was wäre ein Beispiel hierfür?

Schauen sie sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa in den letzten zwanzig Jahren an. Die zunehmende Perspektivlosigkeit junger Menschen gefährdet nichts Geringeres als den sozialen Frieden unserer Gesellschaft. Die Realität ist diese: Die heutigen Kinder, jene die in den nächsten Jahren eingeschult werden, stehen vor einer Zukunft, in der es wahrscheinlich für viele von ihnen keine Arbeitsstellen im heutigen Sinne mehr gibt. Darauf müssen wir als Gesellschaft vorbereitet sein.

Ihr Lösungsansatz ist das SERT-Modell. Es sieht unter anderem die Einführung eines universellen Grundeinkommens vor. Darüber hat die Schweiz als bisher einzige Nation bereits abgestimmt – und 2016 klar Nein gesagt. Weshalb halten Sie daran fest?

Die Abstimmungsvorlage des Bedingungslosen Grundeinkommens war eine positive erste Annäherung an das Thema. Mir fehlte die letzte Konsequenz aufzuzeigen, was die Folgen der Digitalisierung sind. Das SERT-Modell unterscheidet sich inhaltlich zudem wesentlich von der damaligen Initiative.

Genau. In Ihrem Modell sehen Sie diesbezüglich eine Möglichkeit, die Parallelen zum Schweizer Zivildienst aufweist.

Das Modell geht über die finanzielle Absicherung des Überlebens hinaus und garantiert ein menschenwürdiges Leben. Es versucht zudem, den Menschen im Arbeitsprozess ganzheitlicher wahrzunehmen.

Das klingt einigermassen abstrakt.

Es bedeutet einfach, dass eine Arbeit mehr ist als der ausbezahlte Lohn. Für die meisten Menschen ist der Beruf ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses. Wir definieren uns durch unseren Beruf. Fragt uns jemand an einer Party, was wir so machen, geben wir ganz selbstverständlich als erstes Auskunft über unseren Beruf – nicht etwa, dass wir zum Beispiel gerne Wandern. Einen Beruf auszuüben, bedeutet aber auch an der Gesellschaft teilzunehmen. Arbeit hat eine integrative Wirkung. Hinzu kommt ihre Funktion als Quelle der Sinnstiftung: Man leistet einen Beitrag zu etwas Grösserem. All diese bisherigen Funktionen eines bezahlten Arbeitsplatzes kann ein bedingungsloses Grundeinkommen alleine nicht abdecken.

In Ihrem Modell werden diese Aspekte demnach durch zivildienst-ähnliche Betätigungen abgedeckt?

Ein zentrales Element des SERT-Modells ist das Engagement von jedem Menschen für die Gesellschaft – die «Society-Time». Dieses Engagement wird als Gegenleistung zur Grundsicherung von jedem Menschen, seinen Fähigkeiten entsprechend, verlangt. In Analogie zum existierenden und jahrzehntelang erprobten Modell des Schweizerischen Zivildienstes könnte jeder Mensch in einem aus einer breiten Auswahl von Optionen selbst gewählten Bereich zum gesamtgesellschaftlichen Wohl beitragen. Gleichzeitig übernimmt ein solches Engagement eine weitere, nicht zu unterschätzende Funktion der Arbeit: Die Strukturierung des Alltages.

Die Palette an Optionen müsste ziemlich breit sein, um allen gerecht zu werden.

Die möglichen Betätigungsfelder werden in Zukunft bestimmt nicht abnehmen – im Gegenteil. Mit Blick auf die demografische Entwicklung und der Tatsache, dass mittlerweile konstant mehrere Generationen gleichzeitig leben, ist der intergenerationelle Dialog ein immer gewichtigeres Thema. Auch im Bereich des Klimaschutzes ist eine ganze Palette von Engagements denkbar.

Braucht es dazu aber nicht wieder einen aufwendigen Kontrollapparat, der überwacht, ob nun gemeinnützig gearbeitet wird?

Hier spielt die Digitalisierung dem Modell in die Hand: Alle Supervisions-, Reporting- und Controlling-Prozesse sind digitalisierbar.

Missbrauch wäre aber auch mit «intelligenten» Kontrollsystemen möglich oder?

Eine realistische Einschätzung ist, dass es Missbrauchsversuche geben wird. Das ist aber in jedem System, auch im heutigen, der Fall. Die Zahlen dürften aber auch hier statistisch irrelevant bleiben. Zudem muss man Folgendes berücksichtigen: Selbst im Falle von Missbrauchsversuchen fällt das gesamtgesellschaftliche Engagement weitaus höher aus als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen.

Soziales Engagement in Ehren, aber die erste Frage wird immer lauten: Wie soll dieser «Gratislohn» finanziert werden?

Digitalisierung, Robotisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz führen in der Wirtschaft zu einer effizienteren und effektiveren Wertschöpfungskette. Die Mittel werden entsprechend nicht das Problem sein. Bei dieser Ausgangslage liegt die Herausforderung in der Gestaltung eines gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.

Apropos Wirtschaftssystem: Kritiker werfen der Idee eines Grundeinkommens vor, jegliches Unternehmertum im Keim erstickt.

Das E in SERT steht für Entrepreneurship. Das Modell anerkennt die Prinzipien der Wettbewerbsfreiheit sowie die Marktlogik, Anreize für Bildung, Wissenschaft und Forschung, für Innovation sowie für Unternehmertum. Diese Ziele erweisen sich als wesentlich für den Fortschritt einer Gesellschaft. Daher berücksichtigt das Modell die Förderung des Strebens nach diesen Zielen.

Wie würde das in der Praxis aussehen?

Ein Engagement in Bildung, Forschung und Wissenschaft, in Innovation und in Unternehmertum wären beispielsweise Gründe für eine Reduktion oder sogar für eine Befreiung von der zuvor besprochenen «Society-Time». So können Anreize für das Unternehmertum geschaffen werden.

In der Schweiz sind Grundeinkommen und Zivildienst bereits bekannte Themen. Andererseits wird hier der «Chrampfer» glorifiziert. Alleine schon mit dem Image des «Büezers» füllen Musiker hier Stadien. Ist die Schweiz der beste oder schlimmste Ort für ihr Modell?

Es ist der richtige Ort dafür. Die Schweiz ist dafür bekannt, innovationsfreundlich und unternehmerfreundlich zu sein. Zudem herrscht in unserem demokratischen System noch immer eine breite Diskussionskultur. Dass wir als weltweit erste Nation bereits über eine Form des Grundeinkommens abgestimmt haben, unterstreicht dies.

Was müsste aber geschehen, um Ihr Modell von der Theorie in die Praxis zu bringen?

Die Herausforderungen müssen konsequent beim Namen genannt werden. Die Schweiz hat es in der Vergangenheit wiederholt verstanden, Chancen zu nutzen und sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Hier bietet sich nun wiederum eine solche Chance. Die Welle kommt. Die Frage ist, ob wir von ihr überrollt werden oder auf ihr reiten.

Aktuell propagiert der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Andrew Yang ein universelles Grundeinkommen unter dem Begriff «Freedom Dividend». Müsste eine für unsere Breitengrade zugeschnittener neuer Begriff gefunden werden, um die Idee besser zu verkaufen?

Der Begriff ist tatsächlich ein Stück weit beladen. Darüber kann man nachdenken. Zur Version des universellen Grundeinkommens, wie sie Yang vorsieht, gilt es zwei Dinge festzustellen.

Die da wären?

Erstens: Sie geht eben auch nicht über die finanzielle Absicherung hinaus. Mit 1000 Dollar pro Monat ist zudem fraglich, wie viel sie hinsichtlich eines menschenwürdigen Lebens überhaupt bewirkt werden kann. Zweitens ist es aber bemerkenswert und sagt bereits schon einiges aus, dass heute ein Präsidentschaftskandidat in den USA mit der sehr sozialen Idee eines universellen Grundeinkommens auf erhebliche Resonanz stösst.

Zur Person: Peter G. Kirchschläger ist Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Zuvor war er Visiting Fellow an der Yale University (USA). Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Untersuchung der Digitalisierung, Automatisierung, Robotisierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz aus ethischer Perspektive.