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Zu lange Wartezeiten in der Luzerner Psychiatrie, zu wenig Psychiater auf der Landschaft: Ein Bericht des Kantons zeigt auf, wo es bei der Versorgung Lücken gibt. Und sie werden grösser.
Wie steht es um die psychiatrische Versorgung im Kanton Luzern? Yvonne Zemp Baumgartner wollte es genau wissen. Die damalige SP-Kantonsrätin aus Sursee verlangte in einem Vorstoss von der Regierung einen Planungsbericht. In seltener Einigkeit überwies das bürgerlich dominierte Parlament das Postulat mit 98 zu 0 Stimmen. Das war im Juni 2018. Jetzt liegt der Bericht vor und befindet sich in der Vernehmlassung. Das 95 Seiten dicke Dokument zeigt auf, wo es in der psychiatrischen Versorgung hapert.
Zuerst aber ein paar grundlegende Fakten:
Die hohe Nachfrage führt bei den stationären Behandlungen zu einer Bettenauslastung in der Luzerner Psychiatrie von 98 Prozent; zu Spitzenzeiten sind es sogar über 100 Prozent. Nicht besser sieht es bei den ambulanten Angeboten aus. Vor allem bei den Stadtluzerner Ambulatorien der Erwachsenen- und Alterspsychiatrie und beim ambulanten Angebot für Kinder und Jugendliche müssen Patienten nach der Anmeldung mehrere Wochen bis Monate warten, bis die Behandlung startet.
Die Experten des Kantons wählen vor allem für einen Bereich deutliche Worte:
«Bei Kinder- und Jugendpsychiatern kann sogar von einem Notstand gesprochen werden.»
Eine Erholung der Situation ist nicht in Sicht – im Gegenteil: Der Bedarf an psychiatrischen Leistungen wird weiter zunehmen. Der Kanton schätzt das Wachstum über alle Bereiche auf jährlich rund drei Prozent. Allein bei den Ambulatorien der Psychiatrie wird erwartet, dass die Nachfrage um 12 Prozent steigt – pro Jahr.
Um die angespannte Situation zu lösen, werden vier Schwerpunktmassnahmen vorgeschlagen, die den Kanton Luzern pro Jahr mindestens 3,75 Millionen Franken kosten werden. Die erste Massnahme ist ein mögliches von der Psychiatrie geführtes Kriseninterventionszentrum mit integrierter Abklärungs-, Notfall- und Triage-Stelle. Personen in einer akuten Krisensituation erhalten einen einfachen, zeitnahen Zugang zu professioneller Hilfe. Das Zentrum ist laut Bericht ein zentrales Element zur Förderung von «ambulant vor stationär» und hilft mit, dass die Psychiatrie sich mit der Behandlung von psychischen Erkrankungen befasst und nicht zunehmend zum Sammelbecken für verhaltensauffällige Menschen wird.
Ein solches Zentrum gibt es zum Beispiel bereits im Kanton Aargau. Im Zentrum für integrierte Notfallpsychiatrie und Krisenintervention, kurz ZINK, arbeiten derzeit rund 51 Angestellte aus allen Disziplinen, verteilt auf rund 4500 Stellenprozente. Das von den Psychiatrischen Diensten Aargau AG (PDAG) betriebene Zentrum wurde erst dieses Jahr im April eröffnet.
Laut Michel Dang, Zentrumsleiter und Leitender Arzt, ist das ZINK eine Weiterentwicklung der 2010 gegründeten Notfall- und Triagestelle. Seither seien weitere Abteilungen wie die Kriseninterventionsstation, die Akuttagesklinik, das sogenannte Home-Treatment und die Kriseninterventions-Ambulanz hinzugekommen. «Auch wollten wir uns vom alten militärisch geprägten Begriff der Triage trennen, der die Behandlungsbedürftigkeit nur zwischen ja und nein unterscheidet», so Dang. Im ZINK könne nun im psychiatrischen Notfall eine «optimale und der Lebenssituation des Patienten angepasste Behandlung» angeboten werden. Das kann sowohl die Organisation einer geeigneten stationären Behandlung sein, als auch die Vermittlung von teilstationären und ambulanten Angeboten in den PDAG.
Das ZINK hat mit der Coronapandemie die Feuerprobe bereits überstanden. So konnten laut Dang auch Menschen behandelt werden, die an den psychischen Folgeerkrankungen der Pandemie leiden. Seit dem 1. Dezember bietet das ZINK auch eine Coronavirus-Hotline für alle an, die wegen der Pandemie unter psychischen Belastungen leiden. Weil das ZINK auf die Bedürfnisse der Aargauer Versorgungslandschaft ausgerichtet ist, könne es nicht 1:1 auf den Kanton Luzern übertragen werden.
«Wir machen aber sehr gute Erfahrungen mit dem Angebot des Zentrums.»
Im Luzerner Planungsbericht steht dazu, dass es erst ein Lösungskonzept braucht, um die Ressourcen für ein Luzerner Kriseninterventionszentrum festzustellen.
Die zweite Massnahme soll die Wartezeiten in den Ambulatorien verkürzen. Dafür braucht es 32 zusätzliche therapeutische Experten. Wegen des Fachkräftemangels soll der Ausbau über drei Jahre stattfinden, was pro Jahr 1,35 Millionen Franken kosten dürfte. Die dritte Massnahme betrifft die Kosten. Der Kanton soll ungedeckte Kosten von ambulanten Leistungen der institutionellen Psychiatrie übernehmen, die er bestellt und die wirtschaftlich sowie in guter Qualität erbracht werden. Das dürfte pro Jahr 1,2 Millionen Franken kosten. Die vierte Massnahme ist der Ausbau der Sprechstunden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dafür braucht es 17 zusätzliche Fachkräfte, die den Kanton 1,1 Millionen Franken pro Jahr kosten werden. Ausserdem werden ergänzende Massnahmen vorgeschlagen, wie beispielsweise eine Online-Übersicht für Patienten, Angehörige und Zulieferer, oder die Optimierung der Suchtberatung.
Die Luzerner Psychiatrie (Lups) als grösste Akteurin im Kanton begrüsst den Planungsbericht. Direktionsmitglied und Sprecher Daniel Müller: «Es handelt sich um den ersten Planungsbericht dieser Art seit 1995. Die Psychiatrie war sonst immer Teil des allgemeinen Planungsberichts Gesundheitsversorgung. Dass jetzt der Fokus ganz auf die Psychiatrie gelegt wird, ist wichtig.» Noch sei es zu früh, detailliert zum Bericht Stellung zu nehmen, zumal die Lups dies im Rahmen der Vernehmlassung noch tun werde. Aber Müller lässt durchblicken, dass die Lups nach einer ersten Sichtung mit der Stossrichtung einverstanden ist.
Das dürfte auch mit der breiten Mitwirkung zu tun haben, die das kantonale Gesundheits- und Sozialdepartement (GSD) ermöglicht hat. In einer Projekt- und einer Echogruppe konnten 50 Vertreterinnen und Vertreter aus dem Gesundheitsbereich und der Politik ihre Meinungen in den Bericht einfliessen lassen.
Laut Hanspeter Vogler, Leiter Fachbereich Gesundheit des Gesundheits- und Sozialdepartements war für die längere Dauer bis zum Bericht die Coronapandemie verantwortlich. Dass gleich insgesamt 50 Personen in Echo- und -Projektgruppe mitwirken konnten, sei dem Regierungsrat Guido Graf, Vorsteher des Gesundheits- und Sozialdepartements, ein Anliegen gewesen. Die Luzerner Regierung wird den Bericht der Projektgruppe nach der Vernehmlassung allenfalls noch anpassen und dann dem Kantonsrat vorlegen. Das wird voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2021 sein.
Vogler betont, dass es nicht das primäre Ziel sei, mehr stationäre Betten zu schaffen – trotz der bereits hohen Auslastung. «Mit der Gemeindeintegrierten Akutpsychiatrie, also dem Home-Treatment, hat der Kanton ein erfolgreiches, stationär äquivalentes Versorgungsmodell eingeführt, bei dem Patientinnen und Patienten in einer akuten Phase statt in einer Klinik zu Hause behandelt werden.» Zudem wollen tatsächlich viele Luzerner nicht im Heimatkanton stationär behandelt werden. So sei die Situation vor allem im ambulanten Bereich anspruchsvoll.
«Die Nachfrage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nimmt stetig zu, insbesondere auch im ambulanten Bereich, und es ist davon auszugehen, dass diese auch in Zukunft weiter zunehmen wird.»