SCHÄFER: Unterwegs mit 1000 Schafen und dem Wanderhirten Ernst Vogel

Schafe gelten als die ältesten Nutztiere des Menschen. Und fehlen an Weihnachten in keiner Krippe. Um ganze 1000 dieser Tiere kümmert sich Ernst Vogel, der so einiges über brave Lämmer und gute Hirten zu sagen weiss.

Susanne Holz
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Wanderhirte Ernst Vogel mit einem schwarzen Bergschaf aus seiner Herde. (Bild: Nadia Schärli (Buttisholz, 15. Dezember 2017))

Wanderhirte Ernst Vogel mit einem schwarzen Bergschaf aus seiner Herde. (Bild: Nadia Schärli (Buttisholz, 15. Dezember 2017))

Interview: Susanne Holz

Den Wanderhirten Ernst Vogel mit seinen Schafen zu finden, ist gar nicht so einfach. Unterwegs zum Interview streikt erst mal die Elektronik im Linienbus, später dann stapft man über ein riesiges Feld, bedeckt mit knirschendem Schnee, der sogleich nachgibt und matschigem Ackerboden Platz macht. Schnell hat man nasse Füsse in den imprägnierten Winterschuhen und eine Ahnung davon, warum es für die Schafe gesünder ist zu wandern, statt auf dem Fleck zu verharren. Stehen Schafe lange im Matsch, ist das für ihre Füsse nicht sehr gut. Das erfährt man, als man mit dem Schäfer im Warmen sitzt – während seine wolligen Schützlinge ausnahmsweise mal eingepfercht sind und auch die Hunde brav draussen warten.

Ernst Vogel, auf Ihrer Homepage steht, der romantische Anblick des Hirten mit Hütestab sei selten geworden. Sie sind Wanderhirte, haben aber gar keinen Stab dabei?

Im ersten Jahr hatte ich stets einen Stab dabei, doch dann räumte ich ihn beiseite.

Wieso?

Weil ich Rückenprobleme bekam – ich stand immer schief, weil ich mich zu einseitig auf den Stab stützte.

Für was ist der Hirtenstab überhaupt gut?

An ihm ist ein Fanghaken dran, um lahme Schafe einfangen zu können. Im Auto liegt der Stab deshalb stets bereit.

In der Bibel ist Jesus der gute Hirte, und an Weihnachten überbringen Hirten die frohe Botschaft von Jesu Geburt. Was kommt Ihnen als Hirte zu Weihnachten in den Sinn?

(überlegt) Dass sich das Wanderherdensystem seit der Geburt Jesu nicht verändert hat. Die Hirten hüten die Schafe, im Sommer auf der Alp, im Winter unten im Flachland. Es wäre schön, könnte man dieses System so erhalten und würden keine unnötigen Vorschriften es gefährden.

Was meinen Sie da konkret?

Nun, heute darf man beispielsweise nicht mehr mit seiner Herde im Wald übernachten – weil das eine Überdüngung des Waldes zur Folge haben könnte. Ich sehe da allerdings kein Problem. Im Wald wäre es trocken, und die Schafe müssten nicht im Dreck stehen über Nacht, wenn es regnet. Doch leider müssen wir seit einigen Jahren die Tiere abends einpferchen, worüber übrigens auch kein Bauer begeistert ist.

Wie sieht Ihr Alltag als Wanderschäfer aus?

Begleitet von Hund und Esel ziehe ich von November bis März mit meiner Herde durchs Luzerner Mittelland. Ich stehe mit der Sonne auf und wandere den Tag durch über die Felder. Sieben Tage die Woche. Ich füttere die Schafe, ziehe Jungtiere auf und pflege kranke Tiere. Und kümmere mich morgens und abends noch um meine Schweine – zusammen mit meiner Frau.

Wozu sind denn die Esel gut?

Die beiden Esel tragen das Gepäck. Also das Schafnetz, meine Regenkleider und sonstige Kleider sowie Essen und Trinken für die Hunde und mich.

Und die Schafe freuen sich über ihr frisches Gras den ganzen Tag?

Ein jedes sollte pro Tag rund 250 Gramm zunehmen. Das wäre ideal.

Kontrollieren Sie das Gewicht?

Per Augenmass. (schmunzelt)

Ihre Schafe dienen rein der Fleischproduktion?

Das ist richtig, es sind sogenannte Fleischschafe. Ihr rein grünlandbasiertes Fleisch wird als «Zentralschweizer Lamm» vermarktet.

Wie viele Wanderherden gibt es noch in der Schweiz?

Im Kanton Luzern sind es drei, in der Schweiz insgesamt zwischen 15 und 20. Manche Kantone haben gar keine Wanderherden mehr, in Luzern haben wir eine kleine Häufung.

Wo verbringen die Schafe den Sommer?

Von Juni bis September sind sie auf der Unteralp in Andermatt. Im Herbst gibt es in den Läden dann das sogenannte Alplamm zu kaufen.

Und die Schafschur ...

... ist im März. Zehn Zentimeter Wolle trägt ein Schaf im Frühling auf sich. Das ergibt bei 1000 Schafen zwei Tonnen Wolle. Die Kosten für das Scheren betragen 5000 bis 6000 Franken. Für die Wolle bekomme ich lediglich 1300 Franken. Die Wolle ist folglich ein Verlustgeschäft – verdienen tue ich nur am Fleisch der Schafe.

Wie lange sind Sie schon als Wanderhirte unterwegs?

Jetzt im 18. Jahr. Vorher war ich Milchbauer und Landwirt. Die Wanderherde übernahm ich damals vom Nachbarn. Das Einkommen ist besser als das eines Milchbauern.

Wie wichtig sind Hirten heute noch?

Sehr wichtig. Für grosse Herden braucht man Hirten. Weil man die Schafe nicht einfach laufen lassen darf, muss man sie hüten.

Und wieso wandert man mit den Tieren?

Für die Gewichtszunahme der Schafe ist das Wandern ideal. Und die Verwurmung der Tiere ist auf der Winterweide gering. Weil die Schafe dann nicht dort weiden, wo ihr Mist liegt. Und sind die Füsse einmal krank, heilen sie beim Wandern schneller als im Stall.

Apropos Stall. Erleben Sie als Hirte mit Esel und Schaf das Weihnachtsfest anschaulicher als andere?

Dazu besteht wohl auf jeden Fall die Möglichkeit. Ich merke das an den Leuten, die über die Weihnachtstage zu mir kommen und die Schafe sehen wollen. Generell ziehen Schafe und Esel die Menschen an. Im Winter kommen mich Schulklassen wie Privatleute besuchen. Banker, Chirurgen, Kraut und Chabis. Sie helfen mit und übernehmen unter meiner Führung auch mal eine Stunde lang die Herde. Auch sehr beliebt ist das Göttiprojekt – die Schafpatenschaft. Für 120 Franken ist man zwei Jahre lang Götti eines Schafs. Man unterstützt mich so bei den Kosten für die Alpung, den Transport, für Medikamente und Entwurmen. Im Gegenzug kann man das Schaf immer besuchen und erhält eine Urkunde und ein Foto.

Was haben Sie selbst für eine Beziehung zu Ihren Schafen?

Eine sehr gute – ich lebe von meinen Schafen, und sie sind mein Hobby. Ich kenne jedes einzelne, ich kann alle unterscheiden. Als einmal drei Schafe plötzlich fehlten, in einer Herde von 1000, habe ich das instinktiv gemerkt.

Geben Sie ihnen Namen?

Nein, aber Nummern. Wenn ich sie zähle.

Sind Schafe eigentlich tatsächlich dumm?

Nein. Aber sie sind extreme Herdentiere. Eines läuft hinter dem anderen her. Und das ist gut so: Sie schauen zueinander. Das ist der Herdenschutz – die Schafe bilden einen Kreis. Bei Grossherden schützen die äusseren Tiere die inneren, indem sie im Kreis springen. So kann ein Wolf nur die äusseren Tiere reissen.

Was haben Schafe ansonsten für einen Charakter?

Das ist verschieden. Und hängt von der Rasse ab. Die niederländischen Texelschafe beispielsweise, die man häufig in Schottland findet, sind keine Herdentiere, sondern Einzelkämpfer. Sie weiden verstreut auf der Wiese, ohne einen Hirten. Engadiner Schafe wiederum sind extrem ruhig. Es gibt gutmütige und wilde Schafe, was auch dadurch beeinflusst wird, wie man sie behandelt.

Gibt es auch Individuen unter den Schafen?

Ja, man denke an die Herdenführer. Mutterschafe und Böcke haben untereinander ihre Rangordnung und liefern sich Rangkämpfe. Jemand muss der Chef sein.

Sie sprachen vorher Schottland an – dort sieht man fast nur einzelne Schafe, die weit verstreut weiden.

In den Highlands sind die Schafe frei. Wanderherden kennt man dort nicht. Die Besitzer haben aber auch riesige eigene Flächen zur Verfügung. Da braucht es keinen Hirten, der mit ihnen von Privatgrund zu Privatgrund wandert.

Kann man Schafe und Menschen vergleichen?

Das kann man schon: Auch wir sind Herdentiere. Sind beieinander, gehen auseinander, suchen uns eine neue Herde. Andererseits lieben Schafe die Kälte – im Gegensatz zu uns. Eine Lufttemperatur von 15 Grad ist schon warm für ein Schaf, deshalb geht man im Sommer mit ihnen auf die Alp. 20 Grad unter Null hingegen machen einem Schaf nichts aus.

Wie ist es, wenn ein Lamm auf die Welt kommt?

Ich bin selten dabei. Die Schafe gebären ohne Hilfe – am besten in gewohnter Umgebung und innerhalb der Gruppe. Ist das Lamm auf der Welt, separiert man Mutter und Lamm für einen Tag, damit sie sich kennen lernen. Dann sind beide vier Wochen im Stall, mit anderen Müttern und Lämmern zusammen.

Wie viele Lämmer bringt ein Schaf im Durchschnitt zur Welt?

Mutterschafe werden rund sechs Jahre alt. Im Schnitt bringen sie zehn bis fünfzehn Lämmer zur Welt. Fünf Monate sind sie trächtig, und gewisse Rassen lämmern zweimal pro Jahr. Die Zeit dafür ist jeweils von März bis Mai und von September bis Dezember.

Sind Schafe so unschuldig wie das «Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt»?

Nicht immer. Wenn sie ausbrechen oder durchgehen, nein. Ist es nass, werden Schafe nervös, sie versinken nicht gerne im Matsch.

Aber kann ein Schaf auch richtig gemein sein?

Wenn es ums Fressen geht, ist dem Mutterschaf nur noch dieses wichtig, und nicht mehr das Lamm. Aber Mutter und Lamm finden immer zueinander. Ein Mutterschaf säugt sein Lamm drei bis sechs Monate. Ein fremdes Lamm wird vom Mutterschaf nicht angenommen.

Haben Sie auch schwarze Schafe in Ihrer Herde?

Viele. Bis zu 70 Prozent sind schwarze Schafe. Sie sind fruchtbarer und bringen mehr Lämmer auf die Welt. Sie sind auch im Handling ruhiger und leichter – und auch leichter zu scheren. Die weissen Schafe wiederum sind schwerer und für die Fleischproduktion gezüchtet.

Was gibt es zum Fleisch zu sagen?

Das Zentralschweizer Lamm ist ein Nischenprodukt aus der Region, das sehr gut läuft. Frei von Antibiotika, Fleischförderern und Soja. Die Schafe fressen nur Gras und Heu. Das merkt man dem Fleisch an. Wichtig ist, es drei bis vier Wochen zu lagern. Bevor man es zubereitet oder einfriert, sollte man es vakuumiert im Kühlschrank bei maximal fünf Grad drei Wochen lagern.

Schmeckt Ihnen Lammfilet auch?

Ich liebe Lamm. Früher ass man ja nur das Fleisch von älteren Tieren – das vom Geschmack her intensiver ist. Wurst und Trockenfleisch vom Mutterschaf hingegen sind sehr fein.

Was ist Ihnen wichtig im Leben?

Gesundheit – sie ist das Wichtigste. Ich bin gesünder und abgehärteter, seit ich Wanderhirte bin. Ich habe im Winter nie mehr kalt. Abends im warmen Haus erschlägt es mich fast. Wichtig für einen Hirten sind gute Schuhe und mehrere Schichten Kleidung. Und Regenschutz.

Wie feiern Sie Weihnachten?

Daheim rund um den Christbaum. Aber es sagt mir nicht mehr so viel – Kommerz und Gschenkli spielen eine zu grosse Rolle. Weihnachten findet für mich vor allem an Heiligabend statt – Feiertage kenne ich als Hirte nicht, weil ich mich immer um die Herde kümmere. Auch am 1. und 2. Weihnachtsfeiertag. Ich kann meine Schäfchen ja nicht allein lassen.

Mit einem Schafnetz pfercht der Hirte die Herde abends ein. (Bild: Nadia Schärli (Buttisholz, 15. Dezember 2017))

Mit einem Schafnetz pfercht der Hirte die Herde abends ein. (Bild: Nadia Schärli (Buttisholz, 15. Dezember 2017))