Am Freitag feiert Theodor Schmid Geburtstag. Ein Treffen mit einem Mann, der im Zweiten Weltkrieg einen Major abführte, mit einer Bundesrätin per Du ist und dafür kämpfte, dass in Luzern ein Restaurant erhalten bleibt.
Kilian Küttel
kilian.kuettel@luzernerzeitung.ch
Bahnhof Luzern, erster Stock, Restaurant Tibits: Gäste wuseln zwischen Tischen und dem Salatbuffet umher, vor der Bar hat sich eine Schlange gebildet. Das Restaurant ist gut besucht, es ist laut, hektisch. Mitten im Trubel sitzt Theodor Schmid. Der Gehstock lehnt an der Fensterscheibe, vor sich hat er ein Glas Wasser. Die Unruhe zieht am Schüpfheimer vorbei wie ein Zug in voller Fahrt. Wieso auch nicht? Theodor Schmid, geboren am 1. September 1917, hat gelernt, gelassen zu bleiben. Aus wachen, blaugrauen Augen beobachtet er, was um ihn herum geschieht. Im «Tibits» ist er oft. «Wissen Sie», sagt er, «ich bin mitschuldig, dass es hier überhaupt ein Restaurant gibt.»
Rückblende: Weil der Bahnhof umgebaut wird, schliesst 2014 auch das Bahnhof-Buffet im ersten Stock. Lange ist unklar, ob wieder ein Restaurant einzieht. «Ich habe gedacht, das kann es doch nicht sein!», sagt Schmid. Zusammen mit seinem Bruder macht er sich für ein neues Restaurant stark. Sie schreiben Leserbriefe, votieren an öffentlichen Begehungen im Bahnhof, pochen darauf, dass das Bahnhof-Buffet einen Nachfolger bekommt: «Nach langem Hin und Her fiel dann doch noch der Entscheid, eine Beiz im Bahnhof unterzubringen.»
Nun sitzt der 100-jährige Mann hier, in «seiner» Beiz. Aus den Boxen schallt moderne Musik. Der typische «Tibits»-Gast trägt lange Haare und Bart, ist tätowiert. Mit seinen 100 Jahren bildet Schmid einen Kontrast zum neumodischen Ambiente – Avocado-Zitronen-Tarte statt Bratwurst mit Pommes frites, veganer New-Food statt gutbürgerliche Küche. Ihm ist das einerlei: «Wichtig ist doch, dass es hier wieder ein Restaurant gibt. Und überhaupt – ich habe nichts gegen Vegetarier und Veganer.» Alle Menschen nehmen, wie sie sind, lautet Theodor Schmids Motto.
Das hat er in seiner Lebenszeit gelernt. 100 Jahre reichen, um viele Erfahrungen zu machen. Theodor Schmid erzählt, wie er als kleiner Bub in einen Zuber Wasser gefallen ist – mitten im Winter: «Jahrelang habe ich danach das Wasser gescheut.» Oder wie er ins Gymnasium nach Fribourg musste, ohne nach Hause zu dürfen. Und er erzählt vom Krieg. Bis 1945 steht Schmid immer wieder im Einsatz fürs Vaterland; 800 Diensttage als Minenwerfer und Kanonier: «Ich habe so viele Anekdoten – das würde für ein Buch reichen», sagt er und lächelt wie ein Zehnjähriger, der gerade etwas Süsses geschenkt bekommen hat. Dann schildert er, wie er in Genf auf der Wache sass und niemanden ohne Ausweis ins Gebäude lassen durfte. «Plötzlich taucht da einer auf, ein Welscher, ein strammer Mann.» Nur, ohne Papiere. Soldat Schmid lässt nicht mit sich spassen. Er nimmt das Gewehr in den Anschlag und führt den vermeintlichen Eindringling ab – dass der stramme Welsche ein Major ist, spielt keine Rolle. «Er hätte ja ein Spion in Schweizer Uniform sein können.» Trotz des harschen Durchgreifens entgeht Schmid einer Strafe: «Der Kommandant hat gesagt, so einen Soldaten habe er noch nie gesehen.»
Theodor Schmid hat noch ein zweites Motto: «Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.» Das nimmt er sich nach dem Krieg zu Herzen: Am 2. Oktober 1945 heiratet er sein «Bachmatte Marieli». 13 Kinder haben sie, hinzu kommen 27 Enkel und 25 Urenkel. Für alle ist er dankbar, am meisten aber für sein Marieli: 63 Jahre lang sind sie verheiratet. Eine wunderbare Hausfrau und Mutter sei sie gewesen. «Nur die grosse Rednerin war sie nicht.» Vielleicht hat es darum gepasst. Denn Theodor Schmid redet gerne, viel und mit einer Energie, dass die Hände vor lauter Gestikulieren kaum Ruhe finden. Diese sind immer noch kräftig, wohl von der Arbeit auf dem Bauernhof in Schüpfheim.
Die Tage des Bauerns sind vorbei. Heute hat Schmid mehr Zeit für seine Hobbys: Briefmarken, Ansichtskarten und Spazieren. Früher wanderte er viel. Mittlerweile nimmt er es gemütlicher, vier Kilometer läuft er täglich. Nicht nur in Schüpfheim oder Luzern: «Ich reise gern. Mal ist es Basel, dann wieder Zürich, Schaffhausen oder Chur.» Und: immer allein. Auf seinen Reisen hat es schon ganz besondere Begegnungen gegeben – wie vor wenigen Wochen: Doris Leuthard hielt eine Ansprache in Luzern, Schmid stand im Publikum. «Nach der Rede ist sie auf mich zugekommen und hat mir die Hand geschüttelt. Jemand hat ihr wohl gesagt, dass dort hinten ein 100-Jähriger steht.» Der ältere Herr mit dem Schalk im Nacken habe dann zu ihr «Sali Doris» gesagt.
Auch mit 100 Jahren verfolgt Schmid, was in der Welt geschieht. Gottlob sei er im Kopf «à jour geblieben». Was ist sein Geheimnis? «Viel Laufen, das tägliche Gebet, und: Ich habe nie geraucht.» Doch ganz abstinent lebt er nicht. Ab und zu gönne er sich gerne ein Bier oder ein «Schüfferli Wein». So wohl auch heute. Ihm zu Ehren steigt ein grosses Fest. Was genau geplant ist, weiss der Jubilar nicht. Vielleicht gibt es ja eine rauschende Feier mit haufenweise Besuch, Programm und Trubel. Womöglich sitzt Theodor Schmid dann an seinem Tisch, ein «Schüfferli Wein» vor sich, den Gehstock angelehnt. Aus wachen, blaugrauen Augen wird er dann beobachten, was um ihn herum passiert – und dabei gelassen bleiben.