STADT LUZERN: Stadtführung: Fritz führt ins Abseits

Die Veranstaltungen des Vereins Abseits Luzern sind ein grosser Erfolg. Wieso, zeigt die eindrückliche Tour eines ehemaligen Obdachlosen und Drogenabhängigen.

Raphael Zemp
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Der Spielturm war früher schon mal sein Schlafplatz: Fritz (49) im Vögeligärtli. (Bild: Pius Amrein (Luzern, 20. Dezember 2017))

Der Spielturm war früher schon mal sein Schlafplatz: Fritz (49) im Vögeligärtli. (Bild: Pius Amrein (Luzern, 20. Dezember 2017))

Raphael Zemp

raphael.zemp@luzernerzeitung.ch

Wärme tut gut. Besonders nachdem man mehr als anderthalb Stunden durch verregnete und kalte Gassen gestapft ist. Eifrig schälen sich die Führungsteilnehmer aus den Jacken, umklammern dampfende Teetassen, die Guide Fritz eine nach der anderen aus der Thermoskanne presst, und schweigen erst mal andächtig, kurz vor dem Tour-Abschluss im Alano-Treff an der Gibraltarstrasse. Dort, wo sich normalerweise ehemalige Alkoholiker und Drogenabhängige begegnen. Wie schön es doch ist, im Schutz von Wind und Wetter, denkt man unweigerlich. Und wie unsäglich hart das Leben auf der Strasse sein muss, gerade im Winter. So wie sich auch derzeit eine Handvoll Obdachloser auf den Strassen Luzerns durchschlägt.

Und so wie es auch Fritz noch bis vor vier Jahren machte. Zwölf Jahre lebte er auf der Gasse, schwer drogenabhängig. Nun hat er aber wieder ein Dach über dem Kopf und arbeitet seit bald zehn Monaten als einer von neun Guides für den Verein Abseits (siehe Kasten). Mehrmals pro Woche führt er Interessierte durch seine harte Vergangenheit auf der Gasse. «Auch an Orte, wo ich früher mein Himmelbett aufgeschlagen habe», so Fritz – fernab von Kapellbrücke und Löwendenkmal.

Tour führt vom «Turm 3» bis nach Bern

Seine Tour beginnt um 19 Uhr im Vögeligärtli. Im fahlen Licht von Strassenlaternen zeichnet sich die Silhouette eines Spielplatzturms ab. «Turm 3» nennt ihn Fritz, als handle es sich um eine Adresse. Unzählige Nächte hat er hier verbracht «als Penner und Junkie». Nach einer herzlichen Begrüssung und einigen einführenden Worten legt der 49-Jährige los. Entschlossen setzt er sich an die Spitze des zehn Personen starken Grüppchens und lotst es zwischen den Häusern der Neustadt durch von einer Gassen­institution zur nächsten: Anlaufstelle der kirchlichen Gassenarbeit, Tagesstätte des Vereins Jobdach, Drogenabgabestelle und schliesslich «Schliifi», wie die Notschlafstelle auf der Gasse heisst.

So interessant auch seine Ausführungen über die verschiedenen Institutionen sind: Was die Zuhörer wirklich fasziniert und fesselt und auch in Un­glauben verstummen lässt, sind die persönlichen Schilderungen. Stück um Stück setzt sich dabei Fritz’ leidvolle Vergangenheit zu einem Gesamtbild zusammen: Aufgewachsen in Bern, verlässt er mit 15 Jahren sein Elternhaus – und gerät danach in «ungute Kreise». Er überfällt Leute, rutscht in die Drogen ab, landet immer wieder im Gefängnis – und driftet immer mehr an den Rand der Gesellschaft, trotz abgeschlossener Schreinerlehre. Mit 30 Jahren will er einen Neuanfang wagen und zieht nach Luzern, weg von seinem damaligen Umfeld.

Dieser Szenenwechsel zeigt anfangs die gewünschte Wirkung: Er greift nicht mehr zu Drogen, geht einer Arbeit nach und mietet zusammen mit seiner Partnerin eine kleine Wohnung. Doch das bescheidene Glück hält nicht lange an: Bald schon spielt ihm das Leben nicht einen, sondern gleich mehrere böse Streiche. Erst nimmt sich seine Freundin das Leben, wenig später zertrümmert ein Auto seinen linken «Scheiche». Es folgen unzählige Wochen im Spitalbett, eine Erholungskur in Crans-Montana – und ein ganz böses Erwachen: Als Fritz an einem Freitagabend aus dem Unterwallis zurückkehrt, steht er in Littau vor einer verschlossenen Wohnungstür. Die Verwaltung hat das Schloss ausgewechselt, nachdem der Mietzins während Monaten weder von ihm noch vom Sozialamt beglichen worden war.

Redegewandt, witzig – und schonungslos offen

Fritz, klein gewachsen und in breitem Berndeutsch redend, verblüfft an diesem Abend ein ums andere Mal seine Zuhörer: mit seiner schonungs­losen Offenheit etwa, aber auch mit seiner souveränen Art, die Anwesenden durch seine persönliche Tragödie zu führen. Er ist eloquent und trotz des Rumstocherns in schlimmen Erinnerungen nicht um Witze verlegen, die er immer wieder trocken in die Runde wirft, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.

Anfangs kommt er in der Notschlafstelle unter, glaubt noch an ein unglückliches Versehen. Dann zeigt sich immer mehr: So schnell wird sich dieses «Missverständnis» nicht klären. Unerbittlich mahlen die behördlichen Mühlen, reiben Fritz auf. Er sucht verzweifelt nach Halt, schlittert in alte Verhaltensmuster, greift wieder zu harten Drogen. Mit 588 Franken IV-Rente im Monat muss er sich durchschlagen. Dazu kommt das, was er sich erbettelt. Nothilfe verweigert ihm die Stadt – er sei nicht hier gemeldet. Spätestens, wenn Fritz vom erfolglosen Sturmlauf gegen Behörden und Ämter redet, klingt in seiner Stimme die Verzweiflung von damals an. Und auch die Wut von Jahren der Entbehrung. «Denn wer auf der Strasse lebt, nicht versichert ist, der kann etwa nicht einfach mal so zum Arzt gehen.» Daraufhin empört sich auch ein älterer Herr in der Runde: «Dass ein Mensch so durch alle Maschen fällt, kann doch nicht sein.» Eine Reaktion, die Fritz in seiner Arbeit als Führer bestätigt: «Wenn ich Leute zum Nachdenken anregen kann, dann habe ich mein persönliches Ziel bereits erreicht.»

Inzwischen wohnt Fritz auf der Strasse – permanent. Auch im Winter. «Das heisst: Schlafsack in Schlafsack und Decken einwickeln.» Bleibt die Temperatur tagelang unter dem Gefrierpunkt, versucht er tagsüber irgendwo zu schlafen, macht die Nächte durch. Zu gross ist die Gefahr zu erfrieren. Fritz lernt viele Verstecke kennen, die zumindest ein wenig Schutz bieten. Die Kälte aber bleibt ein ständiger Begleiter. Getrieben ist er in jener Zeit einzig von der Suche nach ein wenig Wärme – und dem nächsten Schuss, «damit der Motor wieder auf Betriebstemperatur kommt».

«Dass sich eine solche Tragödie in unserer Stadt abspielen kann!», wundert sich eine Zuhörerin – und spricht wohl für manch anderen. Das erklärte Ziel des Vereins Abseits, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen, erreicht Fritz so mühelos. Auch weil er immer wieder mit gängigen Klischees bricht: «Selbst als Penner wollte ich nicht nach Yves Saint Clochard riechen – und habe wenn möglich immer gerne geduscht, noch besser gebadet.»

Der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit und der Heroinabhängigkeit gelingt ihm schliesslich über einen Gefängnisaufenthalt – und die Liebe. Drei Monate nachdem Fritz seiner Angebeteten Marion seine Gefühle gestanden hat, heiraten sie. Seit nunmehr vier Jahren sind sie zusammen. «Mit meinem früheren Leben möchte ich um keinen Preis tauschen», sagt Fritz. Auch wenn sich vieles seither zum Besseren gewendet hat: Nach wie vor ist Fritz wie auch seine Frau im Methadon-Programm, «30 Jahre Sucht hinterlassen ihre Spuren». Dereinst möchte er aber auch von der Ersatzdroge wegkommen – und dann noch einmal heiraten, «diesmal vor Gott in der Kirche». Bis dahin hat sich hoffentlich noch ein drängenderer Wunsch erfüllt: Noch bewohnt Fritz mit seiner Frau ein WG-Zimmer. «Endlich eine gemeinsame und bezahlbare Wohnung zu haben, das wäre für uns das Allergrösste.»